JR in der Kunsthalle München: Mensch, schaut uns in die Augen
JR ist ein Bote seiner Zeit und mehr Banksy als Basquiat. Der Street-Art-Künstler schafft es sogar in die großen Kunsthallen wie jetzt in München.
Die Banlieue, die Bannmeile, die sich wie ein Gürtel um den noblen Stadtkern von Paris legt, ist ein düsterer Ort. Wohntürme schrauben sich in den Himmel. 2005 war sie Schauplatz der schlimmsten Krawalle in Europa: Waschmaschinen wurden aus Fenstern auf Polizisten geworfen, Autos gingen in Flammen auf, Jugendliche trafen sich mit Schusswaffen, Fahrradketten und Küchenmessern zu organisierten Keilereien.
Wenn es hoch herging in der Banlieue, so berichtete ein französischer Polizist der Autorin dieses Texts damals, wurden die Wohnviertel nur noch von außen abgeriegelt, damit der Ärger nicht in die Stadt schwappte. Man überließ das Chaos und die Gewalt im Inneren sich selbst.
Das ist die Welt, aus der der 1983 geborene Street-Art-Künstler JR kommt. Sein Akronym JR steht für Jean-René – oder für „Juste ridicul“ („einfach lächerlich“). Als Teenager mitten im brodelnden Dampfkessel von Montfermeil beginnt JR mit seinen reduzierten Graffiti: Er kombiniert Tags, also Signatur-Schriftzüge, mit aufgeklebten Fotografien.
Ihm hat die Hypokunsthalle in München nun – nach New York, Paris, London – eine große Einzelschau gewidmet. „JR: CHRONICLES“ ist die eindrucksvolle Ausstellung überschrieben. Die Hängung ist düster und drückend. JRs übergroße, oft fratzenhaft verzogene Porträts überwachen die Besucher. Zitate illustrieren sein Kunstverständnis: JR will nicht die Welt verändern – aber die Wahrnehmung der Welt.
JR: CHRONICLES: Kunsthalle der HypoVereinsbank München, bis 15. Januar 2023. Katalog, Hirmer, 240 Seiten, 39,90 Euro
Dort, wo der gesellschaftliche Unfall passiert
Klar wird das auf den ersten Metern: JR ist Augenzeuge – einer, der sich aktiv dahin begibt, wo unter Billigung von Autoritäten ein gesellschaftlicher Unfall passiert, und wo das routinierte Wegblicken gleichzeitig zur Gewohnheit und zum Kollektivverbrechen wird. Er reist in die Favelas, nach Israel, an den Zaun, der die USA vor Einwanderern schützen soll.
Schon der junge JR sorgt dafür, dass seine Lebenswelt sichtbar wird, dass die Gesichter der Banlieue das Pariser Stadtbild erobern, dass ihre Geschichten eben doch in die Stadt schwappen. Großformatige Fotografien seiner Freunde hängt er in die Champs-Élysées und versieht sie mit gesprayten Rahmen. Wenn die Staatsmacht die Bilder herunterreißen lässt, bleibt so zumindest eine Leerstelle – die über Tage Menschen zeigt, dass hier etwas nicht gesehen werden sollte.
2006 erlangt er internationale Bekanntheit mit einem Mural: „Portrait of a Generation“. Krawall-Jugendliche aus Montfermeil kopiert er neben andere Figuren der Kommune: Feuerwehr, Helfer, den Bürgermeister sogar. Inspiriert hätten ihn die Murales von Diego Rivera, sagt er – und trifft damit eher eine politische als eine künstlerische Aussage: Die Tafelbilder des überzeugten Kommunisten Rivera brachten das einfache Volk mit den Mitteln der Kunst in die Räume der Bourgeoisie. Sie erhoben die, denen die Gesellschaft kaum eine Existenzberechtigung zubilligen wollte, über den Umweg der Kunst zum Wandschmuck – und ironischerweise zum Statussymbol.
Seine Nachbarschaft wird JR schnell zu eng. Im israelischen Grenzgebiet kombiniert er wandhohe Porträts von Isralis und Palästinensern. Die übereinander montierten Gesichter wohnen auf verschiedenen Seiten der Grenze, haben aber denselben Job: Friseur, Taxifahrer, Bäcker. Und keiner der Betrachter dies- oder jenseits des Grenzzauns kann zwischen Gegner und Bruder unterscheiden. JR porträtiert Frauen in den Slums von Nairobi. Er lässt ein Kindergesicht über den mexikanischen Grenzzaun linsen.
Die Wohntürme von Montfermeil
Als vor zehn Jahren in Montfermeil Wohntürme abgebrochen werden, tapeziert er mit seinem Team riesige Porträts seiner Kindheitsfreunde in die Räume – sodass die Bagger, Hieb um Hieb, die Vergangenheit enthüllen.
Und in München rollt er auf dem Odeonsplatz eine 45 Quadratmeter große Plane mit dem Gesicht des ukrainischen Kindes Valeriia auf – so, wie er es schon Mitte März in Lwiw getan hatte, um russischen Kampfbombern zu zeigen, auf wen sie ihre Geschosse donnern.
Auch die Kamera, mit der JR die ersten Fotos geschossen haben will, hat es in eine Vitrine geschafft. Der Künstler hat sie in der Pariser Metro gefunden, sagt er. Technisch versiert war er damals nicht, aber der Blitz ermöglichte ihm spontane Nachtaufnahmen mit krassen Kontrasten – die er zu seinem visuellen wie inhaltlichen Statement macht.
Unverwechselbar – und damit breit verkäuflich – werden seine Arbeiten durch sein starkes Plotting und die Konsistenz seiner Erzählung, die sich in der Geschichte mit der Kamera schon andeutet und durch seinen Auftritt zieht.
JR verbirgt nicht nur seinen Namen, sondern auch seine Augen. Er inszeniert seine Halb-Anonymität und Halb-Legalität mit Hut und Sonnenbrille – und wird so zum perfekten Epitome eines Underground-Künstlers, der es eigentlich längst geschafft hat. JR ist mehr Banksy als Basquiat. Aber macht der Erfolg, vielleicht Hype, seine Arbeiten weniger packend?
JR ist mit 39 Jahren ein perfekter Bote seiner Zeit. Er nutzt allgegenwärtige Medien – Film und Fotografie – und hinterlegt sie mit einer Idee, die so stark und plakativ ist, dass man sich der emotionalen Strahlkraft nicht entziehen kann.
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