Italienische „Magliari“ in Deutschland: Die hohe Kunst des Betrugs
In den 50er Jahren freuten sich die konsumhungrigen Deutschen noch über Migranten – selbst wenn sie, wie die „Magliari“, tricksten. Eine Spurensuche.
Sommer 2018. Tage der Verwirrung, Tage, in denen schon der Versuch, von einem Land ins andere zu gelangen, als Gefahr, als Invasion, ja als Verbrechen gilt; Tage, in denen die Migranten als die größte denkbare Bedrohung des sozialen Gleichgewichts für die europäischen Gesellschaften dargestellt werden.
Dabei ist auszuwandern, etwas Besseres zu suchen und vielleicht zu finden – auch auf abenteuerliche, gefährliche Weise –, schlicht ein menschlicher Instinkt, Teil der individuellen wie kollektiven Dynamik, eine Möglichkeit, die ganzen Generationen Hoffnung gegeben hat – in Europa wie im Rest der Welt. Diese Hoffnung endet derzeit in Lagern, wo Menschen versklavt und Kinder von ihren Eltern getrennt werden – alles im Zeichen einer nie näher definierten Identität, für deren Bewahrung grundlegende Werte der Menschlichkeit über Bord geworfen werden.
In dieser Lage kommt ein Hinweis auf die „Magliari“ vielleicht gerade zur rechten Zeit, weil sich an diesen süditalienischen, hauptsächlich aus Neapel stammenden Migranten die aktuelle hysterisch-negative Aufladung von Migration dekonstruieren lässt.
Die Magliari waren junge Männer, die dem Elend entkommen und am sozialen Aufstiegsversprechen Nachkriegseuropas teilhaben wollten. Dazu erfanden sie auf geniale Weise ein neues Berufsfeld, eine so charmante wie betrügerische Art des Hausierens mit minderwertigen Textilien und Stoffen, und etablierten sich als kosmopolitische Kleinunternehmer.
Der Boom in Westdeutschland
Als Teil der italienischen Migration nach Norden zwischen den 1950er und 1970er Jahren war, wie bei Tausenden von Arbeiterinnen und Arbeitern, vor allem das boomende Westdeutschland ihr Ziel. Und so wurden sie Teil und Protagonisten des Wandels hin zu einer Gesellschaft von Massenproduktion und Massenkonsum.
Wer den Spuren der Magliari folgen will, kann nicht auf Unterlagen in offiziellen Archiven hoffen. Man muss ihre Spuren in Deutschland und Italien verfolgen und die heute alten Leute aufsuchen, die sich schon nach wenigen Wochen in der Fremde zurechtfanden. Sie etablierten ein eigenes Milieu, welches eine so große Faszination ausübte, dass der bedeutende italienische neorealistische Regisseur Francesco Rosi ihnen 1959 einen wunderbaren Spielfilm widmete: „I Magliari“, der auf Deutsch mit dem bizarren Titel „Auf St. Pauli ist der Teufel los“ erst zwei Jahre später in die Kinos kam.
Die Magliari zielten auf etwas im modernen Marketing Unverzichtbares ab: auf das Schnäppchen, bei dem nicht so sehr die reale Ersparnis, sondern der damit verbundene soziale Status zählt. Erst durch sein Verkaufstalent erzeugt der Magliaro überhaupt die Stimmung, dass man die von ihm gebotene einmalige Gelegenheit auf keinen Fall verpassen dürfe, auch wenn man vorher gar kein Bedürfnis nach der angebotenen Ware hatte. Der Magliaro bietet ein Schauspiel, in dem er, perfekt gekleidet und mit den Attributen einer vergangenen männlichen Eleganz wie Krawattennadeln und seidenen Einstecktüchern versehen, sozusagen selbst, durch seinen nach außen gespiegelten Erfolg, für sein unschlagbares, nur jetzt in diesem Moment verfügbares Angebot einsteht.
Der Magliaro ist dabei zweifellos ein Betrüger, denn der Mehrwert seines Angebots liegt nicht in der minderwertigen Ware, sondern „nur“ in seiner perfekten Verkaufsshow, die den kaufunwilligen Konsumenten davon überzeugt, dass eigentlich offensichtlich billig eingekaufte Stoffe, für deren Herkunft und Verarbeitung es keinen Nachweis gibt, zu einem Objekt der Begierde geraten.
Komplexer als heutige Betrüger
Die Magliari einfach den heutigen Verkäufern von gefälschten Rolex-Uhren oder Prada-Taschen an die Seite zu stellen, wäre aber ein Irrtum. Dazu ist ihr Vorgehen zu komplex, zu widersprüchlich. Sie definieren sich als Ausübende eines nur mit angeborenem Talent, mit Fleiß und Wissbegierde zu erlernenden Handwerks. Mehr noch: In unseren Begegnungen mit den alten Magliari wurde immer wieder klar, dass sie sich mit ihrer Kunst des Betrugs selbst verwirklichten, einen eigenen Lebensstil etablierten.
Die alten Magliari erzählen, wie sie ihre nordischen, biederen und meist wenig begüterten Kunden erst erziehen mussten zum Bedürfnis nach mediterraner Eleganz. Die Magliari gaben dabei ein ganz anderes Bild vom „Gastarbeiter“ ab, einem in Sammelunterkünften untergebrachten, schlecht gekleideten Arbeitsmigranten, der im Bergbau, auf Baustellen oder am Fließband schuftete. Mit ihrer unternehmerischen Tätigkeit wurden die erfolgreichsten Magliari zu modernen Pendlern zwischen den Welten, manche gründeten gleichzeitig Familien in Deutschland und in Süditalien.
Als die ersten Magliari 1946 aus dem elenden Neapel der Nachkriegszeit in die zerbombten westdeutschen Städte kommen, entwickeln sie sofort ein Gefühl für die Bedürfnisse der besiegten und geteilten Nation: Wiederaufbau, Fortschritt, Entwicklung, Konsum – erst im Zeichen des ins Land strömenden US-Dollars, dann in dem der D-Mark.
Bei der Auswahl ihrer Kunden sind sie nicht wählerisch, jeder wird nach seinen Bedürfnissen bedient: Die Kleinsparer in ihren Genossenschaftshäuschen am Stadtrand, die liebesbedürftigen Kriegerwitwen und einsamen Hausfrauen, aber auch die oft aus bäuerlichen Verhältnissen in die Industriewelt verpflanzten eigenen Landsleute auf der Suche nach heimisch klingender Ansprache im kühlen Norden. Die Magliari haben für jeden das passende Kleidungsstück, etwas, das verspricht den sozialen Status zu erhöhen, den die Magliari selbst nicht zuletzt durch das zentrale Symbol sozialen Aufstiegs der Nachkriegszeit verkörpern: das möglichst große, auf Hochglanz polierte Automobil.
Alles für den look
Sie erscheinen als Männer von Welt, alles dreht sich um Glaubwürdigkeit, um den look. Aber die wahre Kunst des Handwerks ist das Wort, die Verkaufserzählung, geformt aus einem Mischmasch aus Neapolitanisch und auf der Straße gelerntem Deutsch, dem es gar nicht um Verständlichkeit geht: „Ein Magliaro versucht gar nicht erst, eindeutig zu sein, das darf er gar nicht. Du musst immer zwiespältig bleiben, damit du, wenn du auf etwas festgenagelt werden sollst, einen Rückzieher machen kannst“, sagte einer unserer betagten Interviewpartner.
Das Buch: Marcello Anselmo, Pietro Marcello: „Storie di magliari, Mestieranti napoletani sulle strade d'Europa. L'arte del commercio e il genio dell'imbroglio“. Donzelli, Rom, 2018.
Der Film: Den Film „I Magliari“ des in Neapel geborenen Regisseurs Francesco Rosi findet man mit englischen Untertiteln zum Beispiel bei YouTube.
Die Lesung: Am heutigen Montag sprechen der Autor und Soziologe Marcello Anselmo und die Migrationsforscherin Edith Pichler über „Die Geschichten der ‚Magliari‘“, ab 19 Uhr im taz-Cafe in Berlin, Rudi-Dutschke-Straße 23, der Eintritt ist frei, Moderation: Ambros Waibel.
Die Magliari hatten ihre Zeit; und als die in den entwickelten Konsumgesellschaften fast abgelaufen war, als es kein westdeutsches Provinzcafé mehr gab, das noch keinen Cappuccino auf der Karte hatte, da bekamen die Magliari noch einmal eine kurze Energiezufuhr, ein Tor öffnete sich in die vergangene Warenwunderwelt: 1989.
Die letzten in Deutschland verbliebenen Magliari stürzten sich auf die so konsumentwöhnten wie hungrigen Ostdeutschen, in Leipzig, Dresden, Rostock. Hier gab es Frauen und Männer, ganze Familien, die sich von ihren Erzählungen begeistern ließen, die sie zu sich ins Haus baten, sie ihre Waren ausbreiten ließen, die den Glanz des Westens und die Wärme der Mittelmeerwelt an sich hatten. Sie kauften alles, sie zahlten die überhöhten Preise, ohne zu verhandeln, durch sie leerten sich endgültig die Magazine der Magliari, die ob der Einfachheit des Geschäfts fast enttäuscht waren – wozu ein Handwerk ausüben, das gar nicht gebraucht wurde?
Und dann war auch dieses Eldorado entzaubert. Und das Abenteuer der Magliari war vorbei. Das der modernen Migranten dauert an – und die Frage bleibt, wann ein erbärmlich angstbeißendes Europa endlich wieder die Größe haben wird, auch ihre Energie, ihren Mut, ihren Erfindungsgeist und ihre nur allzu menschliche Hoffnung auf ein besseres Leben für sie selbst und ihre Familien wertzuschätzen.
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers