: Ist die Chemotherapie ein Flop?
■ Renommierte Krebsmediziner gestehen Schwächen der Chemotherapie ein, aber eine weniger giftige Alternative ist nicht in Sicht / Speziell in Deutschland wird „ein großer Teil der Chemotherapie von Nicht-Spezialisten gemacht“
Von Gabi Haas
Wenn es auf dem 15. Welt-Krebskongreß in Hamburg neben der alles übertönenden Anti-Raucher-Kampagne überhaupt eine be -greifbare Botschaft an die Patienten gab, dann war es die Warnung vor sinnloser oder falsch angewandter Chemotherapie.
Angestachelt durch die Enthüllungen des Heidelberger Epidemiologen Ulrich Abel im Vorfeld des Kongresses gestanden renommierte Krebsmediziner in Hamburg öffentlich ein, was für Insider längst keine Überraschung mehr ist: Der jahrzehntelang von Krebsforschern und Ärzten genährte Glaube an die heilende Kraft der Chemotherapie ist ein Flop. Nur bei wenigen Krebsarten kann die wegen ihrer schweren Nebenwirkungen gefürchtete chemische Keule den Tumor wirklich zum Verschwinden bringen. In rund neunzig Prozent der mit Zytostatika (Zellgiften) behandelten Fälle geht es um die Linderung des Leidens, vielleicht auch um eine geringfügige Verlängerung der Überlebenszeit.
Doch gerade in diesem Anwendungsbereich, so die niederschmetternde Bilanz auf dem Krebskongreß, wird von unerfahrenen Ärzten häufig Mißbrauch mit den Anti-Tumor -Medikamenten getrieben, die ausschließlich in die Hände speziell ausgebildeter Onkologen gehören. So beklagte der Hamburger Krebsexperte Dieter Kurt Hossfeld die von den Ärztekammern und Krankenkassen geduldete „groteske Situation“, wonach jeder approbierte Arzt mit der Chemotherapie an Patienten herumexperimentieren könne. Allein in Hamburg fühlten sich „zahllose Mediziner in Kliniken und Praxen“ ohne ausreichende Qualifikation zur medikamentösen Krebsbehandlung berufen. Dabei ließe sich dieser Mißstand durch die Einführung einer Zusatzausbildung leicht lösen.
Für den Schweizer Kurt Brunner, Direktor des Instituts für Medizinische Onkologie am Berner Universitätsspital, ist der fahrlässige Umgang mit den Zellgiften eine Frage der „Machtverhältnisse“: Wenn Vertreter der „etablierten Ordinariate“ wie Chirurgen, Gynäkologen oder Urologen unbedingt auch ihre eigene Chemotherapie machen wollten, dann geschehe das „häufig aus dem Machtbedürfnis heraus, den Patienten nur für sich zu behalten und nicht von einem Team behandeln zu lassen“. Speziell in Deutschland werde „ein großer Teil der Chemotherapie von Nicht-Spezialisten gemacht“.
Die Kriterien, nach denen in der Regel über Erfolg oder Nicht-Erfolg der medikamentösen Krebsbehandlung entschieden würde, wurden laut Brunner vor über dreißig Jahren entwickelt, als man überhaupt erst mit der Suche nach chemischen Anti-Krebs-Substanzen begann. Einziger Nachweis für die „Tumorwirksamkeit“ eines Medikaments war damals wie heute das Schrumpfen des Krebsgeschwulstes, ein Parameter, der sich aber nur im Zusammenhang mit der Heilung von Krebserkrankungen als aussagefähig erwiesen hat. Das gilt für Leukämien, Lymphkrebsarten, Morbus Hodgkin, Sarkome und Hodenkrebs. Vor allem bei Kindern ist die Heilungsrate bei diesen Tumorarten relativ hoch.
Doch bei den meisten Organkrebsen kann die medikamtöse Behandlung Leben kaum verlängern. Zur entscheidenden Frage wird in diesen Fällen, ob mit der zeitweisen Rückbildung des Tumors auch eine Verbesserung der Lebensqualität verbunden ist. Nicht selten nämlich wachsen unter der mit Übelkeit und dauerndem Erbrechen verbundenen Chemotherapie resistent gewordene Krebszellen hinterher umso schneller wieder nach. Die in die Blutbahn gespritzten Zytostatika sollen vor allem das Wachstum der im Körper verstreuten Metastasen hemmen. Doch neben den unkontrolliert wuchernden Krebszellen greifen sie wahllos auch andere sich stark teilende Zellen an. So kommt es zu Haarausfall und einer Verminderung der weißen Blutkörperchen und einem erhöhten Infektionsrisiko.
Dennoch kann nach Darstellung von Hossfeld eine maßvoll eingesetzte Chemotherapie auch im fortgeschrittenen Krebsstadium Symptome wie Kopf-, Knochen- und Muskelschmerzen oder Luftnot lindern oder zum Verschwinden bringen. Eine Feststellung, die übrigens nach den Erkenntnissen des Krebsstatistikers Abel wissenschaftlich nicht abgesichert ist. Das Dilemma sei, so Kollege Brunner, daß nie vorausgesagt werden könne, ob die Chemobehandlung hilfreich sei oder nicht. Während aber der erfahrene Onkologe spätestens nach zwei Wochen Sinn oder Unsinn einer Chemotherapie erkennen könne, setzten weniger kompetente Mediziner ihre Patienten häufig noch wochenlang und überflüssigerweise dem qualvollen Chemie-Bombardement aus.
„Weil wir bisher keine Methoden zur Messung von Lebensqualität entwickelt und keine vernünftigen Dokumentationen geliefert haben“, so Brunners Hypothese, „wird Chemotherapie in der Öffentlichkeit falsch eingeschätzt und hochgejubelt.“ Sein Vorschlag: Durch einen täglich von den Patienten selbst auszufüllenden Fragebogen könnte die Zahl der symptomfreien Tage und so der Therapieerfolg besser als durch das Schrumpfen des Tumors ermittelt werden: „Unvollkommene Antworten auf die richtigen Fragen sind besser als die perfekten Antworten auf die falschen Fragen.“
Ein für den Hamburger Krebsspezialisten Hossfeld „bedrückendes“ Kapitel in der Chemotherapie sind ihre Langzeitwirkungen, die ja nur bei den geheilten Fällen eine Rolle spielen und zunehmend das Augenmerk der Schulmediziner auf sich ziehen.
Zu den möglichen Folgen von Chemo- in Kombination mit Strahlentherapie gehören beispielsweise die Hemmung des Größenwachstums bei Kindern (Chemo- und Strahlentherapie) oder Sterilität bei Männern (Chemotherapie), am „bestürzendsten“ aber die Auslösung einer neuen bösartigen Erkrankung wie Tumoren des Binde- und Stützgewebes oder Leukämien, die nach der Chemobehandlung bestimmter Lymphknotenkrebse in zwei bis drei Prozent der Fälle aufgetreten sind. Genetische Schäden oder Mißbildungen bei Kindern von geheilten Patienten wurden dagegen bisher nicht festgestellt.
Grund genug für Hossfeld, daß der Einsatz der Zellgifte so weit wie möglich heruntergeschraubt und ohne Gefährdung des Therapieerfolgs möglichst ganz weggelassen werden muß. Doch trotz der „trostlosen Situation“ plädieren ausgerechnet die Chemotherapie-Kritiker Hossfeld und Brunner für weitere Forschungen auf diesem Gebiet. Ihre Begründung hat der Welt -Krebskongreß eindrucksvoll untermauert: Eine weniger giftige Alternative ist nicht in Sicht.
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