piwik no script img

Israel wartet auf den AngriffHeute? Morgen? Nächste Woche?

Mit gepackten Notfalltaschen warten viele in Israel auf den Angriff des Iran und der Hisbollah. Manche sind nervös, andere nehmen es mit Humor.

Tal Sharon im Zelt der Jerusalemer Mahnwache für die nach Gaza verschleppten Geiseln Foto: Felix Wellisch

Jerusalem taz | Tal Sharon hat alles für den Notfall dabei. Ihr Rucksack steht in einem großen weißen Zelt vor der Residenz von Regierungschef Benjamin Netanjahu in Jerusalem. Der Notfall wäre ein Angriff des Iran und seiner verbündeten Milizen in der Region auf Israel mit Hunderten, wenn nicht Tausenden Raketen. An den Wänden hängen Plakate der noch immer in Gaza festgehaltenen israelischen Geiseln. Vor dem Eingang steht groß „307“ auf einer schwarzen Tafel geschrieben, für die Anzahl der Tage, die seit dem Hamas-Angriff am 7. Oktober vergangen sind.

Sharon trägt feine Creolen, eine schmale Brille und ein buntes Hemd. Sie betreut am Donnerstag die Mahn­wache der Geisel-Angehörigen, trotz der Warnungen vor einem drohenden Angriff aus dem Iran. „Ich habe meinen Laptop eingepackt, dazu Powerbanks, eine Taschenlampe, Wasser und ein paar Klamotten“, sagt die 27-Jährige.

Wenige Schritte weiter die Straße hinunter sind die Cafés geöffnet. Trotz der Drohungen aus Teheran und dem Libanon nach den gezielten Tötungen des Hamas-Anführers Ismael Hanijeh in Teheran und des Hisbollah-Kommandeurs Fuad Shukr in Beirut vor eineinhalb Wochen geht das Leben in Jerusalem weiter. Nahe der Altstadt, in der sich die drittheiligste Stätte des Islam, die Al-Aksa-Moschee befindet, fühlen sich viele sicher.

Sharon teilt diese Einschätzung nicht. „Ich mache mir keine Illusionen“, sagt sie. „Als sie im April angegriffen haben, sind auch über Jerusalem Raketen geflogen. Und damals war es ein taktisches Spiel, kein Angriff, der wirklich Zerstörung verursachen sollte.“ Sie erinnere sich noch gut an die Lichtstreifen und Explosionen am Nachthimmel über der Stadt.

300 Geschosse

Damals hatte Teheran rund 300 Raketen, Drohnen und Marschflugkörper auf Israel abgeschossen, nachdem 13 Tage zuvor bei einem israelischen Luftangriff in Damaskus zwei Generäle der iranischen Revolutionsgarden getötet worden waren. Zuvor aber hatte Teheran vorsorglich zahlreiche Staaten in der Region in Kenntnis gesetzt.

Fast alle Geschosse wurden abgefangen, bevor sie israelisches Staatsgebiet erreichten. Selbst das gelang nur mit tatkräftiger Unterstützung westlicher Staaten wie den USA sowie den arabischen Nachbarn Jordanien und wohl auch Saudi-Arabien. Im Süden Israels starb dennoch ein 7-jähriges Mädchen, das von Trümmern getroffen wurde.

Nach den gezielten Tötungen am 31. Juli halten viele Beobachter einen sehr viel größeren Angriff für möglich, der darauf angelegt sein könnte, die Abwehrsysteme zu überfordern und Israel ernsthaft zu treffen. Israelische Politiker und Militärs haben für diesen Fall bereits ihrerseits mit einer heftigen Reaktion gedroht. Selbst ein Präventivschlag gegen den Iran sei laut israelischen Medienberichten bereits diskutiert worden.

Es droht eine Eskalation, die schnell außer Kontrolle geraten könnte. Abgesehen von dem seit Monaten andauernden, begrenzten Beschuss zwischen der Hisbollah und der israelischen Armee entlang der Grenze zum Libanon ist bisher aber wenig passiert.

Die Unsicherheit über den Zeitpunkt des Angriffs sei Teil der „Bestrafung“ Israels, sagte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah am Dienstag in einer Videoansprache und versprach erneut: „Unsere Vergeltung wird kommen. Nichts wird uns davon abhalten, egal, wie die Konsequenzen aussehen.“ Israels Verteidigungsminister Joav Galant antwortete laut einem Bericht der Times of Israel bei einem Truppenbesuch, Nasrallah könne „den Libanon dazu bringen, einen sehr hohen Preis zu bezahlen.“

Manche nehmen es mit Humor

Seit gut eineinhalb Wochen rechnen viele in Israel jede Nacht damit, von Sirenen aus dem Schlaf gerissen zu werden. Notfalltaschen stehen gepackt in vielen Häusern, manche schlafen in ihren Kleidern, um schneller zum nächsten Schutzraum zu gelangen.

Andere begegnen der Anspannung mit Humor. Nachdem ein Nasrallah zugeschriebenes Konto beim Onlinedienst X auf hebräisch gedroht hatte: „Vielleicht heute, vielleicht morgen oder in einer Woche“ nahmen viele israelische Nutzer den Post zum Anlass für Antworten wie: „Ich, wenn ich für meine Prüfung lernen muss“ oder „Wenn du deine Raketen mit der israelischen Post liefern lässt.“

Israel kann sich bei der Abwehr eines groß angelegten Angriffs aus dem Iran auf die Unterstützung durch seine Verbündeten, vor allem die USA, verlassen. Washington hatte bereits am vergangenen Wochenende zusätzliche Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge in die Region verlegt. Der General des US-Central Command, Michael Kurilla, besuchte laut einem Bericht des Nachrichtenportals Axios am Donnerstag zum zweiten Mal binnen einer Woche Israel.

Wie wirksam diese Allianz vor Beschuss im Falle eines breiteren Angriffes als im April schützen kann, ist jedoch ebenso offen wie die erneute Beteiligung arabischer Staaten wie Jordanien und Saudi-Arabien. Diese hatten sich im April an der Abwehr beteiligt, allerdings sehr zum Missfallen ihrer Bevölkerungen. In Jordanien hat Schätzungen zufolge mindestens die Hälfte der Menschen palästinensische Wurzeln.

Zuletzt ließ ein Artikel der Washington Post Hoffnung aufkommen. Der Kolumnist David Ignatius schreibt dort unter Berufung auf Vertreter des Weißen Hauses, dass sich die diplomatischen Bemühungen und der militärische Druck auszahlen könnten: „Iran überdenkt möglicherweise seinen Plan für einen umfassenden Vergeltungsschlag.“ Unvorhersehbar bleibe aber die Reaktion der libanesischen Hisbollah.

Bis zu 3.000 Raketen pro Tag

Selbst wenn die Reaktion des Iran verhalten ausfallen sollte: Auch ein ausgewachsener Krieg mit der Hisbollah hätte dramatische Folgen für Israel. Bis zu 3.000 Raketen jeden Tag über Wochen, israelische Raketenabwehrsysteme wie der „Iron Dome“, denen bereits nach Tagen die Munition ausgeht, Tausende Tote und Stromausfälle, weil die israelische Verteidigung nur noch die wichtigsten strategischen und zivilen Orte schützen könnte.

Dieses Szenario zeichnen mehr als einhundert israelische Experten in einer bereits weit vor dem 7. Oktober von der Reichman-Universität in Herzlia in Auftrag gegebenen und Anfang des Jahres im israelischen Wirtschaftsmagazin CTech vorgestellten Studie zu den Folgen eines neuen Libanonkrieges.

„Nicht, dass wir einen solchen Krieg nicht gewinnen würden“, zitiert das Magazin Boaz Ganor, den Chefautor und Präsidenten des Institute for Counter-Terrorism der Reichman-Universität. Doch der Preis wäre immens.

„Die Erwartung der Öffentlichkeit und eines großen Teils der politischen Führung, dass es der israelischen Luftwaffe und den Nachrichtendiensten gelingen wird, die meisten Raketenangriffe zu verhindern, wird sich zerschlagen“, heißt es im Bericht. Heute verfügt die Hisbollah laut Schätzungen über ein Vielfaches an Raketen und Kampfdrohnen im Vergleich zum letzten Libanonkrieg im Jahr 2006.

Das Rambam-Krankenhaus in Haifa hat in der Tiefgarage seine Bunkerklinik mit Platz für 2.000 Patienten vorbereitet

Dass die israelische Armee zumindest ähnliche Szenarien für möglich hält, darauf deutet ein Dokument hin, das laut einem Bericht der Times of Israel kürzlich mit den Bürgermeistern der israelischen Ortschaften im Norden des Landes geteilt wurde. Darin wird vor möglichen mehrtägigen Stromausfällen, Unterbrechungen der Wasserversorgung sowie des Mobilfunknetzes gewarnt. Die Rambam-Klinik in Haifa, das größte Krankenhaus in Nordisrael, hat ihre Tiefgarage in Erwartung eines Angriffs zu einer Bunkerklinik mit Platz für 2.000 Patienten umgebaut.

Das Schicksal der Verschleppten

Im Zelt der Angehörigen in Jerusalem ist eine Mutter mit vier Töchtern in den knöchellangen Röcken religiöser Jüdinnen hereingekommen. Sharon verteilt gelbe Armbänder an die Kinder – ein Symbol, mit dem viele Israelis ihre Unterstützung für die Geiseln und ihre Angehörigen ausdrücken. Denn das Schicksal der Verschleppten in Gaza, wo der Krieg und die humanitäre Katastrophe unvermindert weitergehen, gerät zunehmend aus dem Fokus.

Unklar ist, welche Folgen die Ernennung von Jahia Sinwar Anfang der Woche zum neuen Anführer der Hamas für einen Waffenstillstand und einen Gefangenenaustausch haben könnte. Einerseits geht man im israelischen Sicherheitsapparat davon aus, dass der getötete Hamas-Chef Hanijeh die Verhandlungen zum Teil mit harten Forderungen erschwert habe. Andererseits galt er im Vergleich zu Sinwar als pragmatischer und offener für Kompromisse.

Israel hat nach einem gemeinsamen Aufruf der USA, Katars und Ägyptens seine Teilnahme an neuen Verhandlungen am 15. August zugesagt. Die Hamas äußerte sich zunächst nicht.

Tal Sharon bereitet etwas anderes Sorgen: „Du kannst auf den Straßen spüren, wie die Stimmung auch unter Israelis feindseliger und verrückter wird“, sagt die 27-Jährige.

In der vergangenen Woche drangen rechtsextreme Aktivisten teils bewaffnet, vermummt und begleitet von nationalreligiösen Parlamentsabgeordneten in eine Armeebasis ein, um die Verhaftung von zehn Kameraden zu verhindern, denen Missbrauch an einem palästinensischen Gefangenen vorgeworfen wird – laut übereinstimmenden Medienberichten kein Einzelfall.

Festgenommen worden sei keiner von ihnen. „Aber wenn ich mich heute mit einem der Porträts der Geiseln an die Straße stelle“, sagt Tal Sharon, „dauert es nicht lange, bis mich jemand im Vorbeifahren als ‚Hamas-Unterstützerin‘ beschimpft.“

Dass es nicht nur ihr so geht, zeigt eine Umfrage der Universität Tel Aviv und der Tel-Hai-Hochschule vom Juli. Demnach habe bei den 2.000 Befragten das Vertrauen in die Regierung und die israelischen Institutionen seit dem 7. Oktober ebenso abgenommen wie das Gefühl gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Israel sei militärisch derzeit stärker als Hisbollah und Iran, sagt Sharon. Daher fürchte sie den Krieg weniger als die Verschiebungen innerhalb der israelischen Gesellschaft. „Wenn rechte Milizen hier nach ihren eigenen Regeln anfangen, bewaffnet gegen Demonstranten oder Polizisten vorzugehen, dann landen wir bald in einer Gesellschaft, in der wir uns alle gegenseitig bekämpfen. Das macht mir wirklich Angst.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Israel greift ununterbrochen an, von warten kann gar keine Rede sein.

  • „Wenn rechte Milizen hier nach ihren eigenen Regeln anfangen, bewaffnet gegen Demonstranten oder Polizisten vorzugehen, dann landen wir bald in einer Gesellschaft, in der wir uns alle gegenseitig bekämpfen. Das macht mir wirklich Angst.“

    Wenn man noch dazu bedenkt, dass die Polizei, von der hier die Rede ist von einem Minister kontrolliert wird, der selbst verurteilter Rassist und Terrorist ist, im Extremistennest Hebron lebt und seinen eliminatorischen Hass ganz offen herausschreit, muss man diese Angst teilen. Dass die israelische Polizei und Justiz unter Ben-Gvir und Netanjahu rechte Milizen effektiv bekämpfen halte ich für völlig ausgeschlossen, man bekämpft ja nun nicht die eigenen Leute.



    Lieber beschimpft man jeden der sich für die Geiseln oder das palästinensische Volk einsetzt.

  • Netanyahu wollte es, sein Land muss leider seine Knastängste nun ausbaden.



    Der Iran ist gar nicht so scharf auf Krieg. Es ist einer, Netanyahu, der Verhandlungen sogar durch das Meucheln des Verhandlungsführers der anderen Seiten stoppt, was man bekanntlich echt nicht macht.



    USA und EU sollten den Druck für Frieden erhöhen. Und die Unterstützung für den Friedensunwilligen auch mal einstellen.