Israel verbietet Schulbuch: Die falsche Version der Geschichte
Ein israelisch-palästinensisches Geschichtsbuch will die Geschichtsversionen des jeweils anderen vermitteln. In Israel darf es nun im Unterricht nicht mehr benutzt werden.
JERUSALEM taz | Es hätte die ideale Lösung sein können, um den gegenseitigen Vorwurf der Hetze aus der Welt zu schaffen: ein Lehrbuch vor allem über die Geschichte des israelischen Unabhängigkeitskriegs und der "Nakba", der "Katastrophe", wie die Palästinenser die Flucht aus dem heutigen Israel nennen, in beiden Erzählversionen und in beiden Sprachen.
"Die Geschichtsversionen des anderen lernen" heißt die dreiteilige Bücherreihe des inzwischen verstorbenen israelischen Professors Dan Bar-On und seines palästinensischen Kollegen Sami Adwan. Doch die Erziehungsministerien auf beiden Seiten haben das Buch nie in die offiziellen Literaturlisten der Schulen aufgenommen. Und nun darf es in Israel explizit nicht mehr als Unterrichtsmaterial benutzt werden.
Aharon Rotstein, Direktor eines Gymnasiums im israelischen Negev, hatte die 15 Schüler des Leistungskurses Geschichte das Buch zusätzlich zum normalen Stoff lesen lassen und musste sich dafür vor dem Erziehungsministerium in Jerusalem verantworten. "Wir dürfen das Buch nicht an die Schulen bringen", sagte er am Montag auf telefonische Anfrage. Trotzdem werde die Diskussion weitergehen. Der zurechtgewiesene Schuldirektor gibt sich gelassen: "Uns sind nicht Bücher heilig, sondern Ideen und Methoden."
Grund für das Verbot des Ministeriums sind angeblich historische Ungenauigkeiten. "Das Buch ist vom Erziehungsministerium nicht freigegeben worden und darf deshalb an den Schulen nicht unterrichtet werden", so die kurz angebundene Reaktion in Jerusalem. "Ich glaube nicht, dass es hier um eine politische Strategie geht", meint Direktor Rotstein. Seiner Ansicht nach reicht das Unterrichtsmaterial im Fach Geschichte nicht aus. Wichtiger als Bücher sei es, dass "sich die beiden Seiten kennenlernen", und zwar zunächst die Lehrer. Zwei- bis dreimal im Jahr kommen zu diesem Zweck israelische und palästinensische Pädagogen zusammen.
Immerhin hat die Palästinensische Autonomiebehörde die Bücherreihe im Rahmen eines Projekts im Geschichtsunterricht an einigen Schulen zugelassen. Sami Adwan glaubt, dass das Erziehungssystem auf beiden Seiten "eher Teil des Konflikts ist als Teil einer Lösung". In den traditionellen Schulbüchern ginge es stets um die Auseinandersetzungen der Völker, "niemals um die friedliche Koexistenz von Juden, Muslimen und Christen".
Adwan gründete zusammen mit dem Psychologen Bar-On Mitte der 90er Jahre die Nichtregierungsorganisation Prime (Peace Research Institute in the Middle East).
Das Schulbuch ist eins der letzten großen Projekte, die Bar-On betreute. Mithilfe von jeweils sechs Historikern auf beiden Seiten, die sich in regelmäßigen Arbeitskreisen trafen, versahen die beiden Autoren das Buch mit drei Spalten: Die unterschiedlichen Versionen beider Seiten und eine Spalte für eigene Anmerkungen in der Mitte. "Wenn Kinder lernen, dass es nicht nur ihre Geschichte gibt, sondern dass auch die andere Seite ihre Geschichte hat", so Adwan, "wird das einen Einfluss auf ihre Haltung haben."
Die Schüler der zwölften Klasse in Schaar Hanegew fühlen sich unterdessen um interessanten Stoff betrogen, für den das Erziehungsministerium keine Alternativen anbietet. Die palästinensische Version der Staatsgründungsphase wird schlicht nicht unterrichtet. Liel Skalosov will im kommenden Frühjahr ihr Abitur machen. Sie empfindet die Entscheidung in Jerusalem als Entmündigung. "Offenbar fürchtet das Erziehungsministerium, dass wir die palästinensische Version automatisch als die richtige betrachten", sagte die Schülerin gegenüber Haaretz. "Man sollte unsere Intelligenz nicht unterschätzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste