Israel feiert 70 Jahre Unabhängigkeit: Gretels Jahrhundert
Den 1. Weltkrieg, Weimar, die Nazizeit – das alles hat Gretel Merom erlebt. Sie ist 105 Jahre alt. 1934 ging sie als überzeugte Zionistin nach Palästina.
Gretel Merom sitzt in ihrem kleinen Apartment an einem Tisch und wartet schon auf die Besucher. Sie ist sehr klein und wirkt zerbrechlich, sie hat unendlich viele kleine Fältchen im Gesicht und strahlend blaue Augen. Gretel Merom, die unter dem Namen Gretel Baum in Frankfurt am Main aufgewachsen ist, steht in ihrem 106. Lebensjahr. Und sie ist wach, unglaublich wach.
„Ich bin 1913 geboren worden. Ich erinnere mich dunkel an den Ersten Weltkrieg. Es gab keinen Kaffee und keine Butter. Viele Leute hatten nichts zu essen. Aber wir haben nicht hungern müssen. Mein Vater ist als Freiwilliger in den Krieg gezogen. Er war schon Jahre 50 alt und hätte nicht mehr gehen müssen. Wir hatten selbst in den Kriegsjahren immer eine Weihnachtsgans. Ein Kriegskamerad meines Vaters brachte sie zu uns.“
Zwei Jahre nach der Geburt Gretels bekommt sie einen Bruder. Er erhält den Namen Rudolf. Viele deutsche Juden lassen sich wie Gretels Vater in ihrem Patriotismus nicht überbieten und ziehen für Kaiser und Vaterland in den Krieg. Norbert Baum kommt aus kleinen Verhältnissen aus Hasselbach im Taunus. Die Mutter Julie Baum entstammt der angesehenen Familie Geiger, die schon seit dem 17. Jahrhundert in Frankfurt ansässig ist. Das berühmteste Familienmitglied ist zweifellos Dr. Abraham Geiger (1810–1874), ein liberaler Rabbiner, der zu den Mitbegründern der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin zählt. Das Abraham Geiger Kolleg in Potsdam, an dem Rabbiner ausgebildet werden, erinnert mit seinem Namen heute an ihn.
Keine fromme Familie, dafür sehr deutsch
„Unsere Famile war nicht sehr fromm. Wir haben auch keinen koscheren Haushalt geführt. Aber wir haben alle jüdischen Feiertage begangen. Mein Vater besaß ein Geschäft für Seide, feines Gewebe und Futterstoffe, Schneiderartikel en gros. Es ging uns recht gut. Wir hatten auch ein Kindermädchen. Wir wohnten im Reuterweg 73 im dritten Stock, ganz in der Nähe vom Opernplatz. Eigentlich war die Wohnung viel zu klein. Aber es war nicht genug Geld da. Wir hatten ein Wohnzimmer, ein Herrenzimmer, ein Esszimmer und ein Badezimmer und Küche und Vorratskammer natürlich. Aber es gab kein Kinderzimmer. Das Badezimmer war sehr groß, da haben wir Kinder geschlafen. Später habe in an der Wand im Esszimmer geschlafen. Es war sehr beengt.“
Weihnachten wird auch für das christliche Kindermädchen gefeiert, das unter dem Dach wohnt. Die Baums zählen zu den etwa 30.000 jüdischen Frankfurtern. Allerdings bestehen in der Stadt zwei jüdische Gemeinden: die liberale Hauptgemeinde und die orthodoxe Austrittsgemeinde. In Letzterer sind eher jüdische Einwanderer aus Osteuropa organisiert, die vor allem in der Altstadt und im Osten leben, während das Gros der angestammten Frankfurter der Hauptgemeinde angehört – so wie die Baums. Viel von ihnen leben im wohlhabenderen Westend.
Gretel Merom kann sich noch an die Revolution von 1918 erinnern, als sie auf dem Schulweg einer großen Menschenmenge begegnet, die für und gegen die neue Republik demonstriert. Auch die Inflation von 1923 ist ihr im Gedächtnis geblieben, als der Vater beinahe sein Geschäft verloren hätte.
„Bei uns zu Hause ging es bürgerlich zu. Es gab einen großen Bücherschrank. Sobald ich die Buchstaben unterscheiden konnte, habe ich zu lesen begonnen, vor allem die Bücher, die meine Mutter weggeschlossen hatte. Meine Eltern verstanden sich als Deutsche. Sie waren im Centralverein der deutschen Juden organisiert. Vom Zionismus hielten sie überhaupt nichts. ‚Der ist für die armen polnischen Juden‘, hat meine Mutter immer gesagt.
Jeden Morgen bin ich mit meinen Freundinnen zur Schule gegangen. Es spielte überhaupt keine Rolle, ob jemand jüdisch oder christlich war.“
Gretel Baum besucht ab der Quarta die liberale Viktoria-Schule, die heutige Bettina-Schule. Weil sie so klein ist, wird sie „das Bäumche'“ genannt.
Wie Gretel Baum zur Zionistin wird
„Deutsche Aufsätze habe ich sehr gern geschrieben. In Mathematik war ich dagegen eher schlecht. Und im Turnen war ich sehr gut. Ich wollte damals Tänzerin werden. Beinahe jeden Tag war ich im Palmengarten, denn dort wurde Musik gespielt. Ich bin dort auf die Bühne gegangen und habe getanzt. Häufig war ich in der Oper zu Gast. Die russische Meistertänzerin Anna Pawlowa als sterbenden Schwan habe ich niemals verpasst. Ich bin in die Tanzschule gegangen. Aber all das hat zu nichts geführt.“
Im Gegensatz zu ihrem Bruder macht Gretel Baum in ihrem Elternhaus auf Opposition. Sie möchte koscher essen und setzt bei ihrer Mutter durch, dass sie keinen Schinken mehr vorgesetzt bekommt. Die Eltern reagieren mit Unverständnis. Nach der Inflation und dem fehlgeschlagenen Hitler-Putsch stabilisiert sich die Weimarer Republik, die Nazis gelten als Randerscheinung. Die Juden sind in Deutschland gleichberechtigte Bürger. Kaum einer von ihnen kann mit der Vorstellung einer Auswanderung nach Palästina etwas anfangen.
„Ich habe in den Sommerferien in der Schweiz einen jungen Mann kennengelernt. Ich fand ihn sehr nett und interessant. Wir sind zusammen spazieren gegangen, und er hat versucht, mich für den Zionismus zu indoktrinieren. Aber ich habe mir die Sache erst zu Hause gründlich überlegt. Dann bin ich Zionistin geworden. Ich ging unter dem Protest meiner Eltern zu den Heimabenden der zionistischen Jugendbewegung Kadimah. Einmal in der Woche haben wir einen Bundesabend abgehalten. Wir wollten ein sozialistisches Land in Palästina aufbauen. Zur Vorbereitung besuchte ich drei Monate lang die jüdische Haushaltsschule in Frankfurt und lernte kochen. Bei den Fahrten des Ju-gendbunds war ich nicht so oft dabei, ich war zu faul mitzugehen.“
Gretel Baum liest die Schriften von Theodor Herzl, Simon Dubnow und Martin Buber. Bald leitet sie die Kadimah-Jugendgruppe. Die Eltern sind bestürzt. Der Vater ist so sehr gegen den Zionismus eingenommen, dass er am Sederabend den traditionellen Spruch „Nächstes Jahr in Jerusalem“ verweigert. Ende der 1920er Jahre stürzt die Wirtschaft ab und die Nazis gewinnen in Deutschland mehr und mehr an Bedeutung – für Gretel Baum ein weiterer Grund, ihrer Heimat den Rücken kehren zu wollen. Im Jahr 1932 macht sie ihr Abitur und beginnt auf Wunsch der Eltern eine Lehre in einer Bank. Doch in Gedanken ist sie längst in Erez Israel.
„Nach der Machtübernahme der Nazis hat man erst bemerkt, wie viele Leute der NSDAP angehörten. Unser Deutschlehrer war plötzlich ein ganz großer Mann in der Partei. Ich hatte die Schule ja glücklicherweise schon abgeschlossen. Am 1. April 1933, dem Tag des Boykotts gegen jüdische Geschäfte, war ich in Frankfurt, aber ich weiß nicht mehr, wo. Ich weiß nur, dass ich froh war, dass ich bald wegkonnte. Mein Vater ist an diesem Tag ins Geschäft gegangen. ‚Ich habe keine Angst‘, hat er gesagt. Er ist verprügelt worden, und die Nazis haben das Geschäft beschmiert. Aber meine Eltern haben geglaubt, dass es nicht so schlimm werden würde. Sie dachten, das würde wieder vorübergehen. ‚Ich liebe Deutschland‘, hat mein Vater immer gesagt.
Ich weiß noch, wie die Nazis die Friedrichstraße entlangmarschiert sind. Und ich kann dieses Lied immer noch auswendig: ‚Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen, SA marschiert im gleichen Schritt und Tritt, den Bruder Erhard haben sie erschossen, er schreitet in unseren Reihen mit.‘ Stellen Sie sich vor, das habe ich bis heute behalten. Ich kann es nicht vergessen. Schrecklich.“
Gretel Baum kündigt ihre Stelle bei der Bank. 1934 wandert sie ins britische Mandatsgebiet Palästina aus. Sie reist über Triest nach Jaffa. Der Dampfer heißt „Jerusalem“. Die allermeisten deutschen Juden bleiben zu diesem Zeitpunkt in Deutschland und hoffen, dass das Regime sich mäßigt.
Nazis an der Macht, Gretel erreicht Palästina
„Eines Tages traf ich in Frankfurt zufällig eine ehemalige Mitschülerin. Sie fragte nach meinen Plänen. Ich antwortete: ‚Ich wandere aus.‘ Da hat sie gesagt: ‚Du bist verrückt!‘ Ja, ich wurde für verrückt erklärt. Aber ich war Zionistin, und es war meine Verrücktheit, aber ich hatte recht. Ich war so überzeugt, ich habe meine Eltern nicht verstanden. Meine Mutter war todunglücklich, als ich gefahren bin. Sie hat geweint. Ich mache mir heute Vorwürfe. Das hat mich damals überhaupt nicht berührt. Ich habe nur daran gedacht, dass ich jetzt weggehe.“
Am 30. April 1934 landet die 21-Jährige Gretel Baum zusammen mit ihren Kameradinnen von der zionistischen Jugendgruppe in Palästina. Sie kommt zusammen mit zwei Freundinnen in ein Meshek Poalot, eine Farm für die landwirtschaftlichen Ausbildung junger Frauen. Gretel arbeitet in einer Orangenplantage und zieht von morgens früh bis abends spät mit einer Harke Gräben, die das Wasser halten sollen. Später wechselt sie in einen neu gegründeten Kibbuz. Es gibt kein persönliches Eigentum, selbst die Unterwäsche wird zur allgemeinen Nutzung ausgegeben, die Wäsche kollektiv einmal in der Woche ausgeteilt. Man schläft in Zelten oder Baracken. Es gibt einen Speisesaal für alle und Duschen für beide Geschlechter gemeinsam.
„Da habe ich in der Küche gearbeitet. Die wollten mich keine landwirtschaftliche Arbeit machen lassen. Ich habe zu gut gekocht. Ich lernte meinen ersten Mann kennen. Ich war verliebt, aber es war ein großer Fehler. Das Geld rann ihm durch die Finger.“
1935 bekommen sie ein Baby, das sie Micha nennen. Auf Wunsch ihres Manns verlässt die Familie den Kibbuz und lebt in sehr einfachen Verhältnissen in der Nähe von Rischon LeZion.
„Ich hatte brieflichen Kontakt mit meinen Eltern in Frankfurt. Im Jahr 1936 kam meine Mutter sogar nach Palästina zu Besuch. Aber es hat ihr nicht gefallen. Es war ihr alles zu anstrengend. Sie blieb ein paar Wochen, teilweise ist sie durchs Land gefahren. Aber die meiste Zeit waren wir zusammen. Und unsere Differenzen blieben.“
Solche „Probereisen“ nach Palästina sind Mitte der 1930er Jahre nicht ungewöhnlich. Wohlhabendere deutsche Juden kommen ins Land, um zu schauen, ob ihnen Erez Israel als Emigrationsziel zusagt. Viele reisen angesichts der primitiven Verhältnisse enttäuscht wieder nach Deutschland zurück. Sie können nicht wissen, dass die Nazis schon wenige Jahre später den Massenmord beschließen.
Der letzte Brief der Eltern
Mit Datum vom 15. Oktober 1941 richtet die Mutter ihren letzten Brief an Gretels Bruder Rudolf in den USA:
„Mein lieber Rudolf,
wir erhalten erst heute Deinen Brief No. 8 vom 18. 9., und hat dieses Mal die Post wieder etwas länger gedauert. Wir erwarten nun weiter Deine Nachricht betr. Cuba, da die Sache sehr dringend ist und jeden Tag dringlicher wird. Du kannst Dir denken, dass wir in solcher Zeit sehnlichst auf Antwort warten, immer noch in der Hoffnung, dass es Dir gelingt, etwas für uns zu erreichen, denn das ist die einzige Hoffnung, die wir haben. Wir hören inzwischen, dass durch Washington die Anweisung gegeben wurde, in Berlin resp. Lissabon Visa für die U.S.A. zu erstellen. Es scheint in dieser Beziehung eine Möglichkeit zu geben. […] Hoffentlich hast Du angenehme Feiertage gehabt, und es geht Dir gut. Bleibe gesund und lasse baldigst von Dir hören, hoffentlich nur gutes. Mit innigen Grüßen und Küssen,
Mutti“
„Dieser letzte Brief verfolgt mich bis heute. Mein Bruder war in die USA ausgewandert. Ich konnte für meine Eltern kein Zertifikat für Palästina bekommen. Aber warum hat mein Bruder sie nicht rechtzeitig herausgebracht? Ich kann ihn leider nicht mehr fragen, denn er ist verstorben.“
Julie und Norbert Baum werden mit dem ersten Deportationszug aus Frankfurt am Main am 19. Oktober 1941 zusammen mit mehr als 1.100 Menschen in das jüdische Getto Lodz im deutsch besetzten Polen verschleppt. Am 4. Mai 1942 wählt die Mutter aus Furcht vor einer weiteren Deportation den Freitod. Der Vater soll am 22. Februar 1942 verstorben sein. Aber das erfährt Gretel Merom erst viele Jahre nach dem Krieg.
Mit Kriegsbeginn geht Gretel Meroms Mann zur britischen Royal Air Force, und auch sie arbeitet bald für das britische Militär. Die Juden in Palästina haben beschlossen, die Alliierten im Kampf gegen Nazi-Deutschland vorbehaltlos zu unterstützen. Als Rommels Afrikakorps 1942 tief in Ägypten steht, befürchten zionistische Politiker, die Nazis könnten schon bald Palästina erobern. Doch die Wehrmacht wird im Herbst 1942 in Afrika geschlagen.
Nach Kriegsende trennt sich Gretel Merom von ihrem Mann. Die Juden in Palästina unterstützen den Teilungsplan der Vereinten Nationen und verlangen die eigene Unabhängigkeit, die Araber lehnen beides ab, und die Briten lavieren zwischen beiden. Die Spannungen wachsen. Gretel wird Mitglied der paramilitärischen Truppe Haganah. Am 14. Mai 1948, nach dem Abzug der letzten britischen Soldaten, erklärt David Ben Gurion die Unabhängigkeit des Staats Israel. Er spricht: „Der furchtbare Massenmord, der in unseren Tagen zur Vernichtung von Millionen von europäischen Juden geführt hat, hat wiederum in einer unwiderleglichen Weise den zwingenden Beweis dafür erbracht, dass das Problem der jüdischen Heimatlosigkeit in der Erneuerung des jüdischen Staatswesens im Land Israel sein Lösung finden müsse, in der Gründung eines Staates, dessen Tore jedem Juden offen stehen.“ Am selben Tag beginnt der Krieg der arabischen Nachbarländer gegen Israel.
70 Jahren Staat Israel: Aus diesem Anlass finden in Berlin mehrere Veranstaltungen statt. Den Anfang macht am 19. April eine Geburtstagsparty für Kinder und Erwachsene in der Talmud-Tora-Schule in der Joachimstaler Straße. Am 4. Mai lädt der alljährliche Israeltag der deutsch-israelischen Gesellschaft (DIG) auf den Gendarmenmarkt ein. Am 13. Mai steigt eine Independence-Day-Party im Watergate. Ein Wochenende im Zeichen der Unabhängigkeit veranstaltet erneut die DIG, wenn sie vom 25. bis 27. Mai zum Israel-Festival am Gleisdreieck einlädt. (gsh)
Erinnerung an Israels Unabhängigkeitserklärung
„Ja, die Unabhängigkeit! Jetzt feiert man schon den 70. Jahrestag! Das haben wir geschafft. Damals sind wir auf die Straße gelaufen und haben die ganze Nacht getanzt und gefeiert. Dann kam der Krieg. Alle Männer und viele Frauen mussten zum Militär. Ich musste nicht, weil ich einen Sohn hatte. Wir hatten alle nichts zu essen. Aber irgendwie ging es schon. Ich erinnere mich, dass ich gekocht habe, die Suppe habe ich mit meinem Sohn gegessen, und der Sohn hat am nächsten Tag das Fleisch bekommen. Es gab diesen schrecklichen Primus-Kocher. Der hat immer furchtbar gestunken. Ich arbeitete als Dienstmädchen. Ich musste die Wohnung sauber machen und Staub wischen. Aber ich habe diese Arbeit gehasst wie die Pest.Ich wohnte in Petah Tikva in einer kleinen Wohnung, aber ich konnte sie nicht bezahlen. Mit dem Geld gab es immer Zores. Erst als die Wiedergutmachung kam, habe ich zum ersten Mal wirklich Geld bekommen.“
Israel ist in den 1950er Jahren ein armes Entwicklungsland. Viele Einwanderer aus dem Nahen Osten müssen in Zelten wohnen. Lebensmittel und andere Dinge sind rationiert, es gibt immer denselben Konservenfisch und denselben Käse zu essen.
„Ich habe diese Armut nicht so empfunden. Es war schwer, aber wir haben es überstanden. Ja, ich war stolz, dass Israel es geschafft hatte. Aber heute bin ich eigentlich viel stolzer als damals. Damals musste man sich viel zu sehr um das eigene Leben kümmern, als stolz zu sein. Heute bin ich sehr zufrieden. Ich bin zwar schon alt, und ich habe dauernd vor Augen, dass es mir schwer ist, zu leben, und schwer ist, zu sterben. Wenn mir jemand sagen würde, was nach dem Tod kommt, wäre ich damit sehr zufrieden. Aber keiner ist zurückgekommen.“
1961 beginnt der Prozess gegen den Organisator des Holocaust, Adolf Eichmann, in Jerusalem. Die in Israel verdrängte Geschichte kommt wieder hoch. Eichmann wird zum Tode verurteilt und hingerichtet.
„Ich fand es furchtbar, dass er hingerichtet worden ist, aber es war irgendwie auch richtig. Es war ein schrecklicher Mensch. Ich weiß nicht, ob ich für die Todesstrafe gestimmt hätte. Aber er hat es wahrscheinlich verdient. Ich hatte mir geschworen, nie mehr mit einem Deutschen zu reden oder ihm die Hand zu geben. Aber dann habe ich einen jungen Mann kennengelernt, einen Deutschen, der mit einer Gruppe nach Israel kommen wollte, aber nicht einreisen durfte, weil der Eichmann-Prozess gerade stattfand. Roy Wiehn ist heute einer meiner besten Freunde.“
Gretel Merom erinnert sich an den Sechstagekrieg im Jahr 1967. Doch sie glaubt, dass es besser gewesen wäre, Israel hätte die besetzten Gebiete gegen einen Frieden eingetauscht. Seit Jahrzehnten ist sie Mitglied der sozialdemokratischen Arbeitspartei. „Wir müssen Frieden machen. Vielleicht können wir die Araber überzeugen“, sagt sie.
Zuletzt arbeitet Gretel Meróm als Frendsprachensekretärin in einem Krankenhaus in Haifa. Sie heiratet erneut. 1988, da ist Gretel Merom 75 Jahre alt, zieht das Ehepaar gemeinsam in das Elternheim Rischonei Hacarmel. Ihr Mann stirbt nur wenige Jahre darauf. Noch mit 95 Jahren schreibt sie ihre Lebenserinnerungen auf. Mehrfach ist Gretel Merom in ihrer alten Heimat Frankfurt zu Besuch gewesen. Die Aufnahme dort sei sehr freundlich gewesen.
„Aber es war schmerzhaft für mich, zum Haus meiner Eltern zurückzukehren. Das war schlimm. Weil sie meine Eltern umgebracht haben. Das kann ich ihnen nicht vergessen.“
Frau Merom, ich habe noch ein letzte Frage. Wie schafft man es, so alt zu werden?
Das weiß ich nicht.
Hatten Sie bestimmte Gewohnheiten? Etwa, kein Fleisch zu essen?
Nein.
Keinen Alkohol zu trinken?
Ich habe gerne getrunken.
Nicht zu rauchen?
Ich habe geraucht, bis ich 50 war, 30 Zigaretten am Tag. Ich weiß wirklich nicht, was mich so alt werden lässt.
Und dann bittet Gretel Merom den Besucher, doch im nächsten Jahr wieder vorbeizuschauen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau
Flugzeugabsturz in Kasachstan
War Russland schuld?