Islamischer Staat in Nordafrika: Sirte soll Hauptstadt des IS werden
In der libyschen Küstenstadt verschleiern sich Frauen, Aktivisten fliehen ins Ausland. Auf den Landkarten des IS fehlen die Staatsgrenzen.
TUNIS taz | In Sirte hat eine neue Zeitrechnungen begonnen. „Die Uhren werden um 1.300 Jahre zurückgedreht“, sagt Mohammed Alabous, ohne eine Miene zu verziehen. Der Ingenieur berichtet von der Parade, die der Islamische Staat (IS) nach dem Mord an 21 ägyptischen Arbeitern in Muammar al-Gaddafis Heimatstadt abhielt. Mit etwa 100 brandneuen Toyota-Jeeps demonstrierten die Steinzeitkrieger ihren alleinigen Machtanspruch in Sirte.
Alabous trifft sich mit seinen Freunden seit Jahren in einem Café an der Hauptstraße, wo die Mittfünziger das politische Geschehen bei Wasserpfeife und Pfefferminztee besprechen.
Gaddafi wollte einst die kleine Küstenstadt an der unberührten Mittelmeerküste Libyens zur überregionalen Hauptstadt machen. 1999 beschlossen die Staatslenker Afrikas, einen Steinwurf von dem Café der Diskussionsrunde von Alabous entfernt, die Gründung der Afrikanischen Union. Nun hat der IS eine nicht weniger kühne Vision: Sirte soll die Hauptstadt eines afrikanischen Kalifats werden.
Die Bewohner von Sirte rechnen mit einem neuen Krieg
Auf ihren im Internet kursierenden Karten fehlen die von den europäischen Kolonialmächten gezogenen Grenzen. Die schwarze Fläche mit den weißen IS-Schriftzug erstreckt sich von Nordnigeria über Mali bis nach Bengasi. Wie im ostlibyschen Derna werden Bürgern an einigen Kontrollpunkten die Pässe mit den Worten abgenommen, dass alle Araber bald in einem Land leben werden.
„Sirte ist eine besetzte Stadt und wir können nichts machen“, beklagte einer in der Diskussionsrunde schon vor Monaten. Nun schweigt er gegenüber Journalisten. Mit der Ankunft der Propagandaeinheit des IS aus Syrien und dem Video über die Ermordung der ägyptische Arbeiter sei der Startschuss für die Expansion in Libyen gefallen, ist man sich in der Runde einig. Die Freunde wissen, dass Sirte damit ein neuer Krieg bevorsteht. Im Ouagadougou-Kongresszentrum schlugen vergangenes Wochenende die ersten Bomben der libyschen Luftwaffe ein, die versuchte, die neue Befehlszentrale der Extremisten auszuschalten.
In Cafes spricht man lieber über unverfängliche Themen
Unter dem Kommando General Chalifa Haftars gelang es der Armee und Bürgern, Ansar al-Scharia und andere Milizen in Bengasi zurückzudrängen. Der Preis dafür ist eine schwer zerstörte Millionenstadt und die Übernahme weiter westlich liegender Städte wie Sirte durch „die Bärtigen“. Auch in Tripolis und der Sahara-Provinz Fessan wurden schon schwarze Flaggen gesichtet. Die Machtübernahme beginnt schleichend.
In Sirte mussten Modeläden im Januar ihre Schaufensterpuppen entfernen. Straßensperren tauchten aus dem Nichts auf und verschwanden wieder, dann begannen die Morde an politischen Aktivisten. Ihr Ziel erreichen die Täter auch ohne Bekennerschreiben. Junge Frauen verschleiern sich, Aktivisten fliehen ins Ausland, in den Cafés wendet man sich unverfänglichen Themen zu. In Sirte mussten sich die Behördenmitarbeiter öffentlich entschuldigen, für den Staat gearbeitet zu haben. Auf Fotos sieht man Männer mit gesenktem Kopf vor einem Kommandeur der Miliz Ansar al-Scharia, die sich nun zum IS bekennt, und sie Solidaritätsbekundungen unterschreiben lässt.
Die Milizen kämpfen um den Zugang zu Macht und Geld
Die Grenzen zwischen den Milizen sind oft fließend. Namensänderungen gehören zum Konzept der Machtübernahme, sind aber oft auch Ausdruck der Uneinigkeit zwischen den extremistischen Gruppen. Damit will der IS nun Schluss machen. Seine Stärke beruhte schon in Syrien auf der Uneinigkeit seiner Gegner.
Während der IS der Regierung der Fadschr-Milizen in Tripolis den Krieg erklärte, boten er den Misurata-Milizen eine Kooperation an. „Die internationale Gemeinschaft sagt, es gebe keine militärische Lösung in diesem Konflikt“, schüttelt Abubakr, ein ehemaliger Offizier, den Kopf. Das Gegenteil sei der Fall. „Es geht um die Kontrolle von Städten, Schmugglerrouten und Ölförderanlagen, also den Zugang zu Macht und Geld. Das werden die Milizen, die Armee und der IS unter sich aus machen.“
Die Christen sollen aus Sirte verschwinden
Die politischen Vertreter der Bewegungen Karama in Bengasi und Fadschr in Tripolis verlieren immer mehr an Einfluss. Die lachenden Dritten sind die IS-Kommandeure, oft mit Afghanistan- oder Syrienerfahrung aus den Nachbarländern. Wie Gaddafi haben sie die strategisch günstige Lage von Sirte erkannt. Ihre geringe Zahl machen sie mit Brutalität und Propaganda wett.
Während die Politiker von Fadschr und Karama über ihre Zusage zu den von der UNO angesetzten Friedensgesprächen in Marokko streiten, handeln die Extremisten. Christen und den Milizen aus der Nachbarstadt Misrata, die sich nicht dem IS anschließen wollen, gaben sie 24 Stunden Zeit, aus Sirte zu verschwinden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen