Iran und die Welt: Das Regime setzt auf Eskalation
Die iranische Führung steht innenpolitisch stark unter Druck – und gleicht das durch außenpolitische Machtdemonstration aus. Darunter leidet das Volk.
D er Tag, an dem die Nachricht von Ebrahim Raisis Tod verkündet wurde, sei ein Freudentag gewesen, erzählt Nasim Sepehri, Besitzerin eines Kleiderladens in Shiraz. Auch ihre Angestellte sei am Morgen zur Arbeit gekommen und habe gestrahlt. „Endlich hat es einen von ihnen getroffen“, habe die Mitarbeiterin laut gesagt. Raisi war Staatspräsident der Islamischen Republik Iran. Er war einer der Hauptverantwortlichen für die Massaker der 1980er Jahre, bei denen Tausende politische Gefangene ermordet wurden. Im Mai starb er bei einem Hubschrauberabsturz. Ein paar Stunden später, erzählt die 52-jährige Sepehri, habe ihre Mitarbeiterin einen Anruf von einer unbekannten Nummer erhalten. Der Geheimdienst der Revolutionsgarden: Sie solle in Zukunft vorsichtig sein, was sie sagt, es könne gefährlich für sie werden.
„In diesen Tagen hat das iranische Regime so viel Angst vor der unzufriedenen Bevölkerung, dass es Agenten überall hinschickt; Agenten in Zivil in Einkaufszentren, Taxis, Cafés, Geschäften“, schreibt eine anonyme Beobachterin aus Teheran im deutschen Exilmedium IranJournal über die Situation im Land. Wohl noch nie in der mehr als 45-jährigen Geschichte der Islamischen Republik war der Graben zwischen Regierenden und Regierten so tief und unüberbrückbar wie heute. Die „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste, die im September 2022 nach dem staatlichen Mord an Jina Mahsa Amini wegen ihres vermeintlich nicht richtig sitzenden Kopftuchs ausbrachen, haben die Machthaber nachhaltig verstört. Trotz ihres hochgradig organisierten Sicherheitsapparats gelang es ihnen monatelang nicht, die täglichen Proteste niederzuschlagen. Nur mit brutalster Gewalt wurde es zumindest oberflächlich ruhiger.
Unter der Oberfläche aber ist die Wut der Menschen mit Händen zu greifen. Als Hamas-Chef Ismael Hanije in Teheran – mutmaßlich von Israel – getötet wurde, feierten viele Menschen den Anschlag in den sozialen Medien. Sie priesen Israel für den Schlag gegen die Islamische Republik. Die Mächtigen um Revolutionsführer Ali Khamenei wissen nur zu gut, dass die größte Bedrohung von innen kommt. Sollte das Regime eines Tages fallen, dann wohl nur durch Widerstand der Bevölkerung. Wird der Druck durch die Menschen im Land eines Tages zu bedrohlich, besteht die Gefahr, dass die eigenen Leute aus Angst die Seiten wechseln. Oder das Land verlassen. Das Regime braucht die Loyalität seiner Gefolgschaft, um seine Macht zu sichern.
So viele Hinrichtungen wie schon lange nicht mehr
ist ausgebildete Ärztin und Politikwissenschaftlerin und hat später den Weg in den Journalismus gefunden. Beschäftigt sich mit Rassismus, Antisemitismus, Medizin und Wissenschaft sowie dem Nahen Osten.
Deswegen ist das wichtigste Ziel für die Machthaber und ihre bewaffneten Truppen, jeglichen Protest im Land zu ersticken. Dazu gehört auch, den Verschleierungszwang wieder rigoros durchzusetzen. Die Unbeugsamkeit der vielen Frauen, die seit Beginn der „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste das Kopftuch nicht mehr in der Öffentlichkeit tragen, ist ein Stachel im Fleisch des Systems. Abschrecken sollen auch die vielen Hinrichtungen: Im vergangenen Jahr hat das Regime mehr als 820 Menschen exekutiert und damit so viele wie seit vielen Jahren nicht. Die gesamte Führung der Islamischen Republik ist hochgradig nervös.
Genau aus diesem Grund setzt der Staat außenpolitisch auf Eskalation. Um das zu verstehen, muss man wissen: Die wichtigste Prämisse für das iranische Regime ist die Sicherung seiner Existenz. Jegliches Handeln, nach innen und nach außen, orientiert sich an dieser Prämisse. Die Instabilität im Inneren ist einer der wichtigsten Gründe, warum die Führung sich außenpolitisch durch Machtdemonstrationen zu stabilisieren sucht. Eine wichtige Rolle spielt dabei die sogenannte Achse des Widerstands: Die von Teheran finanzierten und in Teilen kontrollierten militärischen Gruppen von Hamas, Hisbollah, Huthis im Irak und in Syrien sichern die Macht nach außen ab.
Das Regime verbreitet mithilfe seiner Verbündeten das Narrativ, dass es der Verteidiger der palästinensischen Sache und aller Muslime weltweit sei. Der Terroranschlag vom 7. Oktober war für die Machthaber ein Geschenk: Ihre Stellung in der Region hat sich seitdem verfestigt. Gab es zuvor Annäherungen zwischen Israel und den USA auf der einen und Saudi-Arabien – dem größten Gegenspieler Teherans in der Region – auf der anderen Seite, so präsentieren sich die iranischen Machthaber als erste Front gegen den in der Region bei vielen Menschen verhassten Staat Israel.
Teheran möchte Angst verbreiten
Am Iran kommt niemand mehr vorbei. Das zeigt sich auch an den Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas: Die Amerikaner üben mit Verweis auf das iranische Regime Druck auf Netanjahu aus, einem Deal zuzustimmen. Seit der Tötung Hanijes auf iranischem Boden lässt das Regime die Weltgemeinschaft in Unsicherheit darüber, wie es Rache nehmen möchte. Teheran möchte Angst verbreiten. Sollte es einen Waffenstillstand geben, so das Regime, könnte es auf einen Gegenschlag verzichten. Es ist in erster Linie ein Machtspiel.
Dass das Regime tatsächlich einen großflächigen Angriff gegen Israel anordnet, ist schwer vorstellbar. Es wäre für das Regime nicht kalkulierbar, wie die USA reagieren – über eine solche Situation hätten die Machthaber keine Kontrolle mehr. Wahrscheinlicher ist es, dass weiterhin die Hisbollah aus dem Libanon im Auftrag des Iran die Angriffe auf Israel durchführt. Diese mächtige Stellung ist wie eine Lebensversicherung für das Regime. Die internationale Gemeinschaft interessiert sich noch weniger als ohnehin schon für die tagtäglichen Menschenrechtsverbrechen des Staates gegen die eigene Bevölkerung. Die Machthaber können die Repression bis ins Unermessliche ausweiten, ohne dass sie Konsequenzen befürchten müssen.
Für die Menschen im Iran sind das keine guten Aussichten; für Israel und die gesamte Region ebenso wenig. Und so werden im Iran die Räume des Widerstands für Menschen wie Nasim Sepehri und ihre Mitarbeiterin wohl noch kleiner werden. Und der Hass auf das Regime noch größer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader