Iran-Expertin über Proteste: „Potenzial der Zivilgesellschaft“

Die Reformer haben als liberale Kraft ausgedient, sagt Iran-Expertin Azadeh Zamirirad. Doch in der Zivilgesellschaft könnte neue Solidarität wachsen.

Eine Frau in einer protestierenden Menge schneidet sich Haare ab

Die Gesellschaft hat das Kopftuch längst abgelegt: Proteste gegen das iranische Regime in Syrien Foto: Orhan Qereman/reuters

taz: Bei den Protesten in Iran geht es nicht mehr nur um den Hidschab, sondern das ganze System. Woher kommt das?

Azadeh Zamirirad: Es gibt einen enormen Frust im Land, der in den letzten Jahren noch gewachsen ist. Wir haben unter dem derzeitigen Präsidenten, Ebrahim Raisi, eine weitere Schließung gesellschaftlicher Räume gesehen. Die letzten Präsidentschaftswahlen waren dabei – selbst gemessen an den Standards der Islamischen Republik – extrem beschränkt. Immer mehr Iranerinnen und Iraner haben es aufgegeben, über formale Kanäle Änderungen bewirken zu wollen. Es gibt so viel Frustration über die wirtschaftliche, politische, und gesellschaftliche Lage, gepaart mit Umweltproblemen wie Wasserknappheit und Dürre. Das ist eine riesige Melange an Krisen und gleichzeitig gibt es kaum Aussicht auf Besserung.

In Iran gibt es – neben den konservativen Hardlinern – auch die als liberaler geltende Fraktion der Reformer. Spielen sie bei den Protesten eine Rolle?

Die sogenannten Reformer sind absolut nebensächlich geworden. 2009, bei den bislang größten Protesten in der Geschichte der Islamischen Republik, haben die Reformer noch an der Spitze der Demonstrationen gestanden. Viele, die jetzt auf der Straße sind, lehnen sowohl konservative Hardliner als auch Reformer ab. Früher, vor allem in den 1990er Jahren, gab es durchaus die Hoffnung, dass mittels der Reformer aus dem System heraus Änderungen möglich sind. Aber sie haben bis heute weder gesellschafts- noch wirtschaftspolitisch sichtbare, langfristige Erfolge vorzuweisen. Für viele ehemalige Anhänger haben sie als Kanal für substanziellen Wandel ausgedient.

forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik zu Iran und politischer Ordnung.

Haben die Konservativen überhaupt Unterstützung für die Durchsetzung des Kopftuchzwangs?

Die Mehrheit der Iranerinnen und Iraner ist gegen eine Kopftuchpflicht, darauf deuten selbst inneriranische Untersuchungen hin. Die Gesellschaft hat das Kopftuch längst abgelegt. Der Staat versucht trotzdem, die Kleiderordnung aufrechtzuerhalten. Dass das nur mit Gewalt gelingen kann, ist ein Problem, das mittlerweile auch vielen Konservativen und Hardlinern bewusst ist. Das ist eine neue Dimension in den derzeitigen Protesten: dass öffentliche Kritik an der gewaltsamen Durchsetzung einer solch rigiden Kleiderordnung selbst aus dem konservativen Lager kommt.

Könnte das System diesmal wirklich gestürzt werden?

Viele hoffen, dass die Proteste eine Dynamik entwickeln, die gleich das gesamte System erfasst. Andere haben Sorge vor einem revolutionären Umsturz, weil sie bereits eine Revolution durchgemacht haben, die nicht zu einem demokratischen Staat geführt hat. Das Potenzial für Umbrüche ist grundsätzlich da und die Gesellschaft lässt nicht locker. Gleichzeitig hat aber auch der iranische Staat starke Mittel in der Hand, um sich zu schützen.

Gibt es Organisationen im Land, die eine neue Revolution anführen könnten?

Im Moment sehe ich keine politische Kraft, die so organisiert wäre, dass sie eine demokratische Transformation des Staates gewährleisten könnte. Sich zu organisieren, eigene Ideen zu verwirklichen, wurde vom Staat unterbunden. Selbst die sogenannte Grüne Bewegung von 2009, aus der damaligen Protestbewegung entstanden, hat nicht viel voranbringen können. Aber Iran verfügt über eine lebendige Zivilgesellschaft, aus der neue Bewegungen und Solidargemeinschaften entstehen können. An Ansätzen und Ideen mangelt es nicht. Auf zivilgesellschaftlicher Ebene gibt es viel Potenzial – aber das ist noch ein langer Weg.

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