Inuit-Aktivistin über Klimawandel: „Für ein Recht auf Kälte“
In der Arktis fängt der Schnee später an zu fallen. Sheila Watt-Cloutier über eine untergegangene Kultur und das sich verändernde Eis in ihrer Heimat Kanada.
taz: Frau Watt-Cloutier , die Arktis erwärmt sich sehr schnell. Haben Sie Angst, Ihre Heimat zu verlieren?
Sheila Watt-Cloutier: Ja. Aber wir lassen nicht zu, dass diese Angst der Mittelpunkt unseres Lebens wird. Es gibt schon genug unmittelbare, alltägliche Probleme, mit denen wir seit Langem konfrontiert werden. Während meines Lebens hat es sehr stürmische Veränderungen gegeben, die den Zusammenbruch der Inuit-Gesellschaft beeinflusst haben.
Hatte das schon etwas mit dem Klimawandel zu tun?
Noch nicht. Der Klimawandel trifft eine ohnehin schon sehr verletzte Gemeinschaft. Wenn Sie mich das kurz erklären lassen. Ich glaube, es ist wichtig, die Hintergründe zu kennen.
Bitte!
Ich bin im Eis geboren worden und habe dort die ersten zehn Jahre meines Lebens verbracht. Wir haben uns nur mit dem Hundeschlitten fortbewegt. Ich konnte kein Englisch, bis ich in die Schule kam. Ich bin sehr traditionell aufgewachsen.
Wie war Ihre Familie?
Meine Großmutter und ihre Kinder sind von ihrem weißen Vater verlassen worden. Stellen Sie sich eine sehr kleine Handelsstation im Hudson Bay vor. Nur wenn die Inuit ihre Felle verkauften, kam jemand da hin. Sie wurden von globalen Handelsgeschäften, vom globalen Fellmarkt gezwungen, Fallensteller zu werden, um diesen Markt zu bedienen – bis er zusammenbrach.
Die Frau: Als Vorsitzende des Inuit Circumpolar Council, das Inuit in den USA, Kanada, Grönland und Russland vertritt, engagiert sich die 62-jährige Kanadierin besonders für Umweltbelange. In diesem Jahr erhielt sie den Alternativen Nobelpreis.
Das Buch: In „The Right to Be Cold“ (Allen Lane, März 2015) schreibt sie über ihr Leben.
Sprechen Sie noch Ihre Sprache?
Ich habe sie verlernt, als ich jung war, als ich fortgeschickt wurde. Aber ich habe sie wieder zurückgewonnen. Meine Muttersprache ist immer noch Inuktitut. In der Gegend, aus der ich stamme, ist die Sprache noch sehr lebendig. Aber wir durften sie lange nicht sprechen. Die Idee dahinter war, Inuit zu erzeugen, welche die Welt da draußen akzeptieren. Wir sollten unsere Kultur und unsere Sprache hinter uns lassen. Die Verletzungen sitzen tief.
Gibt es Inuit, die immer noch auf die traditionelle Art und Weise leben?
Unsere Männer können immer noch Iglus bauen. Wir sind ein Volk von Jägern, Fischern und Sammlern. Auch wenn sie heute normalerweise Lohnarbeiter sind, nutzen vor allem die Männer jede Gelegenheit, um zu jagen. Mein Bruder ist ein sehr fähiger Politiker in der kanadischen Regierung, aber sobald er zu Hause ist, geht er jagen. Das ist immer noch unser Leben.
Ein Teil der Umweltbewegung sagt, Sie sollen aufhören, Tiere zu essen. Wie lässt sich dieser Konflikt auflösen?
Wir sehen es nicht als unsere Aufgabe, diejenigen zu überzeugen, die sich nicht davon überzeugen lassen wollen, dass es eine andere Lebensart gibt. Menschen sehen Tiere als schutzbedürftig an. Wir sehen das Verzehren von Tieren als eine spirituelle Erfahrung. Versuchen Sie mal nur Gemüse zu essen in der Arktis, bei Temperaturen von bis zu minus 50 Grad.
Warum nicht?
Der Erde droht der Hitzekollaps. Deshalb wollen die Staatschefs der Welt Anfang Dezember in Paris einen globalen Klimaschutz-Vertrag vereinbaren. Die taz berichtete vom 28. November bis zum 14. Dezember 2015 täglich auf vier Seiten in der Zeitung und hier auf taz.de.
Wir essen Meeressäugetiere, um uns warm zu halten. Sie halten unsere Körper gesund. Wenn Tierschützer extrem sind, haben sie oft die Tendenz, sehr spezifisch zu sein. Dann schützen sie eben nur knuddelige Robben. Wenn ein Fischerboot mit Tonnen voller Sardinen einläuft, verziehen sie keine Miene.
Denken Sie manchmal, es wäre besser, noch immer auf dem Eis zu leben?
Wir wollen nicht für den Rest unseres Lebens in einem Museum ausgestellt werden. Wir sind sehr anpassungsfähig. Manch einer behauptet vielleicht, dass wir Probleme haben, weil wir uns nicht in der modernen Welt zurechtfinden. Aber mir geht es nicht darum, das eine Leben gegen das andere einzutauschen. Es geht darum, eine Lebensart aufrechtzuerhalten, die sehr nachhaltig ist, sehr weise in einer Welt, in der alle Verbindungen zueinander verloren gegangen sind.
Zurück zum Klimawandel. Was macht die Erderwärmung mit Ihren Gemeinden?
Wir haben die Veränderungen die letzten 15 Jahre beobachten können. Zum einen sind die Gifte in unserer Nahrungskette ein großes Thema. Nebenprodukte von Industrien und Pestizide reichern sich in der Arktis an. Wegen der Kälte können sie nicht in die Atmosphäre aufsteigen. Die Muttermilch stillender Inuit-Frauen war in den 80ern so sehr mit Giften belastet wie nirgendwo sonst auf der Welt. Mittlerweile gibt es das Stockholmer Übereinkommen, das diese Gifte minimiert, aber es gibt immer neue.
Und der Klimawandel?
Beides, Toxine und Klimawandel, gefährden das Überleben unserer Kultur.
Können Sie die Veränderungen sehen?
Der Schnee fängt viel später an zu fallen und das Eis bildet sich später, im Frühling schmilzt es früher. Und das Eis bildet sich anders. Die Jäger können es nicht mehr lesen. Unser traditionelles Wissen, das wir über Jahrtausende gesammelt haben, stimmt plötzlich nicht mehr. Es gibt auch neue Spezies. Verschiedene Wespen haben wir noch nie vorher gesehen. Es gibt auf einmal Schleiereulen, bestimmte Fische, die in südlichere Teile des kanadischen Meeres gehören. Lachse sind in den Norden vorgedrungen. In Nunuvuk, wo ich die letzten 13, 14 Jahre gelebt habe, gibt es auf einmal Rotkehlchen. Die Wälder breiten sich weiter nach Norden aus, weil der Permafrost in der Erde zurückgeht.
Sie hoffen, das Thema Menschenrechte in das Klimaabkommen zu bekommen. Warum?
Klimawandel ist ein Menschenrechtsthema. Wir in der Arktis haben ein Recht auf unsere Kultur. Es geht um unser Recht, unsere Kinder zu erziehen, unser Recht auf Gesundheit, unser Recht auf Sicherheit. All diese Rechte sind schon verletzt worden. Deshalb sage ich: Wir verteidigen unser Recht auf Kälte.
Zyniker könnten jetzt sagen: Was geht mich die Arktis an?
Was in der Arktis passiert, bleibt nicht in der Arktis. Das Eis, die Gletscher, die grönländische Eisplatte – das ist das Kühlsystem für den Rest unseres Planten. Wenn das zusammenbricht, betrifft es das ganze System. Vor 15 Jahren haben wir gesagt, es ist nur eine Frage der Zeit. Die Zeit ist gekommen. Es passiert jetzt.
Haben Sie Zugang zu Entscheidungsträgern?
Wir haben eine Delegation von Inuit in Paris, die auch Teil der kanadischen Delegation ist. Die Rechte der indigenen Völker gehören in den verbindlichen Teil der Abkommens. Das hat auch Einfluss auf die Menschenrechte aller auf der Welt. Die Leute scheinen diesen Zusammenhang nicht zu begreifen. Sie denken: Mein Gott, wenn wir ihnen ihre Menschenrechte geben, dann werden sie uns verklagen – anstatt das große Ganze zu sehen.
Warum sollten die Indigenen speziell erwähnt werden? Menschenrechte gelten doch für alle.
Ich spreche von den Indigenen und den verwundbaren Menschen dieser Welt. Ich meine uns alle. Die Unterhändler müssen es schaffen, über ihre bürokratische Rolle hinauszuschauen. Wenn die Arktis schmilzt, dann trifft es auch die Niederlande, Lousiana, Florida, alle.
Bewegt sich denn auf dem Klimagipfel in dieser Hinsicht etwas?
Welchen anderen Ort gibt es denn, um unsere Probleme zu zeigen? Einen Ort, der es schafft, die globale Gemeinschaft zusammenzubringen, um über Klimawandel zu diskutieren. Wir versuchen es weiter.
Wir haben Paris, wir haben dieses Gespräch. Trotzdem fährt jeder mit seinem Auto herum und konsumiert weiter.
Ja, ich fliege auch. Ich besitze ein Hybridauto. Dennoch – ich fahre Auto. Wir als Individuen können Dinge bis zu einem bestimmten Punkt verändern, aber es gibt gewisse Dinge, auf die wir uns verlassen müssen. Solange die Industrie- und die Regierungsrichtlinien sich nicht in großem Umfang verändern, werden wir keine wirkliche Senkung der Treibhausgasemissionen sehen.
Glauben Sie an den grünen Kapitalismus, daran, dass große Firmen Veränderung bewirken?
Der Ansatz der Inuit ist ein anderer. Wir sind nicht besonders dogmatisch. Ich bin vielleicht nicht so angezogen, aber ich bin wie der Jäger, der aufsteht, den Horizont beobachtet, die Bedingungen abwägt und dann weiß, was zu tun ist. Ganz pragmatisch.
Ist es eine Tradition bei den Inuit, dass es starke Frauen gibt, die die Gemeinschaft führen?
Bei uns hat sich die Rolle der Männer dramatisch verändert. Der Zusammenbruch des Markts für Seehundfelle, die Schlachtung ihrer Hunde durch die kanadische Regierung, das hat unseren Männern größte Verletzungen zugefügt. An die neuen Lebensformen haben wir Frauen uns besser anpassen können. Du wirst in gewisser Weise gezwungen, auf eine bestimmte Art zu leben und Dinge anzugehen, so als ob du das Kleid von jemandem anderen überziehst.
Nehmen Sie manchmal noch Ihre Hunde und fahren in die Wildnis?
Die Ironie meines Lebens ist, dass ich die letzten 15 Jahre zu beschäftigt war. Aber wenn ich in Rente gehe, dann möchte ich zurück, meine Türe öffnen und in der Natur sein.
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