Interview zu Nobelpreisträgerin Han Kang: „Sie geht dorthin, wo es schmerzt“
Bilder der Gewalt haben Han Kang nachhaltig traumatisiert. Das meint die Literaturwissenschaftlerin Marion Eggert im Gespräch.
taz: Frau Eggert, am 10. Dezember wird der Literaturnobelpreis feierlich in Stockholm verliehen. Überrascht Sie die Vergabe an die Südkoreanerin Han Kang?
Marion Eggert: Ich war tatsächlich zunächst erstaunt. Je mehr ich mich jetzt aber mit ihrem Werk beschäftige, desto besser kann ich die Entscheidung nachvollziehen.
Marion Eggert ist seit 1999 Professorin für Koreanistik an der Ruhr-Universität Bochum. Von 2019 bis 2023 war die gebürtige Münchnerin Präsidentin der Association for Korean Studies in Europe.
taz: Was ist besonders an der Autorin?
Eggert: Zwei Dinge würde ich herausheben. Als erstes die Schonungslosigkeit, mit der sie dorthin geht, wo es schmerzt – insbesondere bei den beiden vielgerühmten Romanen „Die Vegetarierin“ und „Menschenwerk“. Man spürt beim Lesen, dass das keine Attitüde ist; sie will nicht schockieren und schaut nicht auf Leser und Markt.
In einer frühen Erzählung spricht sie davon, sich eine Stelle „zwischen Nacken und Schultern“ zu massieren, die sich zerfetzt und zugleich taub anfühlt, und dabei zu denken, „wenn diese Hand das Sonnenlicht wäre? Wenn sie die ferne Stimme eines Mai-Winds wäre?“ Was da so scheinbar lieblich daherkommt, heißt übersetzt: Die dauerhafte Wunde, die der Mai, also das Massaker von Kwangju im Jahr 1980, geschlagen hat, kann nur heilen, wenn man sie dem Licht aussetzt und die Erinnerungen zu Gehör bringt.
Die zweite Besonderheit ist die Lyrizität ihres Erzählens. Es ist ja viel darauf hingewiesen worden, dass sie als Lyrikerin begonnen hat. Das ist richtig und spielt sicherlich eine Rolle, aber entscheidend ist die literarische Notwendigkeit: Han Kang dokumentiert nicht Ereignisse, sondern Seelenzustände. Das geht nur mit dichterischen Verfahren.
taz: Han Kang wurde vor allem durch „Die Vegetarierin“ international bekannt. Welche Rolle spielt dieses Werk in der koreanischen Literaturgeschichte?
Eggert: Für Geschichtsschreibung ist es noch zu früh, aber es liegt nahe, dass es als das Werk, das den Grundstein für Han Kangs internationalen Ruhm und damit für den Nobelpreis gelegt hat, einen herausgehobenen Platz in der koreanischen Literaturgeschichtsschreibung erhalten wird. Die Wirkungsgeschichte eines Werkes ist immer auch abhängig von Faktoren außerhalb des Textes. Dass der Filter der gesellschaftlichen Wahrnehmung, die dann in Literaturgeschichte kondensiert, einzelne Werke hervorhebt und damit andere, vielleicht gleichwertige, auf hintere Ränge verweist, ist unvermeidlich und schmälert nicht die Bedeutung derjenigen Werke, auf die sich die Aufmerksamkeit konzentriert.
taz: Wie wird es in Südkorea im Vergleich zur internationalen Rezeption gesehen?
Eggert: Als der Roman 2016 als erstes koreanisches Werk den International Booker Prize erhielt, hat das in Südkorea große Wellen geschlagen und den Roman erst richtig berühmt gemacht. Das heißt aber nicht, dass er bei seinem Erscheinen in Korea keine Rolle gespielt hätte, und schon gar nicht, dass er im Ausland überbewertet sei. Vielmehr hat der mittlere Teil, „Mongolenfleck“, der zunächst unabhängig in einer Zeitschrift erschien, 2005 den höchsten Literaturpreis des Landes erhalten, und als der ganze Roman 2007 erschien, ist er sehr wohlwollend besprochen worden. Anders als in der westlichen Rezeption wurde er aber weniger feministisch gelesen, sondern als Bearbeitung einer viel grundsätzlicheren Verquickung von Leben und Liebe mit Gewalt.
taz: Viele von Han Kangs Werken befassen sich mit Trauma und Gewalt. Gibt es historische oder kulturelle Gründe, warum diese Themen in ihrer Literatur so stark vertreten sind?
Eggert: Kulturelle Gründe kann ich nicht erkennen. Historische und biografische dagegen werden von Han Kang selbst benannt. Sie hat als Kind indirekt das Massaker in der Stadt Kwangju miterlebt, mit dem sich die Militärdiktatur zunächst gefestigt und zugleich den Widerstand angestachelt hat. Bilder davon, die sie zu sehen bekam, haben sie nachhaltig traumatisiert.
Gewalt zieht sich aber durch die koreanische Geschichte des gesamten 20. Jahrhunderts: die Kolonialisierung durch Japan, das einen sehr repressiven Kolonialapparat eingerichtet hat, die brutale Niederschlagung der Unabhängigkeits- und Widerstandsbewegungen in dieser Zeit, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dann der unglaublich grausame Koreakrieg, in dessen Vorfeld der Partisanenkrieg in unzugänglicheren Gebieten Südkoreas und das Massaker von Cheju 1948, über das Han Kang in „Unmöglicher Abschied“ schreibt. All das sind wichtige Gegenstände und prägende Faktoren der südkoreanischen Literatur insgesamt.
taz: Wie wird die koreanische Geschichte, besonders die Aufarbeitung der Militärdiktatur, in der koreanischen Gesellschaft reflektiert?
Eggert: Die Ereignisse von Kwangju etwa sind durchaus auch anderweitig aufgearbeitet worden, die Erinnerung daran ist identitätsstiftend für die koreanische Linke. Aber Han Kang geht es nicht um Schlichtung und Schiedsspruch, sondern darum, eine Sprache zu finden für das Unsagbare, den Geistern der Vergangenheit Form zu geben, so dass sie weniger neues Unheil anrichten können. Darin liegt die Bedeutung ihrer Werke.
taz: Welche Rolle spielt Han Kang in der zeitgenössischen koreanischen Literaturszene?
Eggert: Sie hat im Laufe der Jahre so gut wie alle wichtigen Literaturpreise Südkoreas erhalten, dazu kommt seit 2016 ihr internationaler Ruhm – sie gehört also schon lang zum inneren Zirkel der hochangesehenen Autorinnen. Zu ihrer zurückhaltenden Persönlichkeit passte es aber nicht, diese Stellung für mediale Dauerpräsenz oder in eine Machtposition innerhalb des Literaturbetriebs zu nutzen. Sie scheint sich dem auch jetzt eher entziehen zu wollen.
taz: Erwarten Sie, dass dies zu einer stärkeren Rezeption anderer koreanischer Autoren führen wird?
Eggert: Da sehe ich keinen Automatismus. Hat der Nobelpreis für Jon Fosse die Aufmerksamkeit für andere norwegische Autoren erhöht? Es könnte im koreanischen Fall sogar den gegenteiligen Effekt haben, wenn die Übersetzungsförderung durch die südkoreanische Regierung nun reduziert oder gar ausgesetzt werden sollte, weil das Ziel Nobelpreis erreicht wurde. Ich sehe die koreanische Literatur aber aufgrund ihrer Qualität und Vielseitigkeit ohnehin auf dem Weg, aus ihrem internationalen Nischendasein herauszukommen.
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