Interview mit Tanzlehrer: „Ein ungeheures Gefühl von Freude“

Juan D. Lange bringt den Berlinern nicht nur südamerikanische Tanzstile wie Tango und Salsa bei, er vermittelt eine ganze Lebensphilosophie.

Tanzt für den Fotografen sogar auf dem Tresen: Juan D. Lange Foto: David Oliveira

taz: Herr Lange, Ihr Motto lautet „Bailar es cultura“ – „Tanzen ist Kultur“. Ist das fürs Salsatanzen nicht ein bisschen hoch gegriffen?

Juan D. Lange: Populäre Tänze wurden lange abgewertet, aber natürlich sind sie ein wichtiger Teil der Kultur. Im Fall von Salsa der Kultur Kubas, wo sich der Tanz über 100 Jahre aus älteren Stilen entwickelt hat, aber auch der Kultur der gesamten Karibik und der Latinos in New York. Als ich nach Europa kam, habe ich mich über den elitären Kulturbegriff hier sehr gewundert, der offenbar stark davon abhängt, ob eine Aktivität vom Staat finanziert wird oder nicht. Schon ein Begriff wie „hohe Kultur“ ist befremdlich.

Der Tango gilt hierzulande schon als seriöser – er ist ja auch ziemlich ernst.

Ich sage immer ironisch: Die vielen nach Argentinien und Uruguay ausgewanderten Italiener sehnten sich nach der Dramatik der Oper, und dabei kam der Tango heraus. Der Tango transportiert aber auch eine Trauer, es ist der Tanz von Menschen, die viel verloren haben. In der alten Heimat hatten die Italiener eine riesige Familie, sie kamen an den Silberfluss, den Río de la Plata, aber statt in Silber zu baden, mussten sie malochen – und es gab einen riesigen Männerüberschuss. Bis heute sind Argentinier und Uruguayer gern ein bisschen jammerig. Aber der Tango hat auch Biss. Der tanguero wird ja nicht depressiv, dafür reicht es nicht. Er wird nur melancholisch.

Der Mensch: Juan D. (Dietrich) Lange wird 1955 in Montevideo als Kind deutscher Einwanderer geboren. Als 1973 das Militär putscht, verlässt er Südamerika und geht er nach Deutschland, studiert in Berlin Ethnologie.

Die Musik: Schon als Jugendlicher begeistert sich Lange für Tango und andere Tanzstile. Das Festival Horizonte’82, das bedeutende Tango- und Salsa-Musiker nach Berlin holt, gibt für ihn den Ausschlag, Tanzlehrer zu werden. Seine Tanzschule, das Estudio Sudamérica, eröffnet 1985 am Bahnhof Grunewald – seit 2013 unterrichten Lange und sein Team in der Heidestraße am Hauptbahnhof.

Das Projekt: Neben dem Unterricht bildet er Tanzlehrer aus – zurzeit für eine Wiener Tanzschule in Gründung: In „Lillis Ballroom“ lernen ab kommenden Herbst blinde und sehbehinderte Menschen Tango und andere lateinamerikanische Tänze. (clp)

Die Region, in der die Salsa entstanden ist, war auch nicht vom Wohlstand verwöhnt.

Zum Jammern fehlt in der Karibik erst einmal die Oper. Dazu kommen die natürlichen Bedingungen: Das Wetter ist toll, alles gedeiht, man kann einen relativ lockeren Lebensstil führen. Und die Musik in der Region ist der sprichwörtliche Schmelztiegel. Die Menschen dort haben ein reiches Erbe angetreten. Mit den Andalusiern kamen der Flamenco und seine arabischen Einflüsse, mit den Afrikanern, die als Sklaven nach Amerika verschleppt wurden, Unmengen an Rhythmen. In Kuba spielte auch die Musik der Taínos, der Ureinwohner, eine Rolle.

Sie betonen, dass Sie kubanische Salsa unterrichten. Was ist das Besondere daran?

Du lernst so viel durchs Tanzen: Du lernst deinen Körper besser kennen. Du trainierst Empathie

Die US-amerikanische Salsa, der „New York Style“, wurde von Tanzlehrern begründet, die sagten: Die Bewegungen sind viel zu kompliziert, wir bringen da ein Vor-zurück-Schema rein. Einer hat noch einen Schließschritt eingebaut, das Ergebnis ist völlig unnatürlich. Da sieht man sofort: So etwas Verkopftes kann niemals in Kuba erfunden worden sein. Eigentlich hat die kubanische Salsa gar keinen Grundschritt, nur ein durchgängiges Bewegungsmuster. Aber schon die älteren lateinamerikanischen Tänze wurden in den 20er Jahren für das Ballroom Dancing in England von geschäftstüchtigen Tanzlehrern standardisiert. Denen ging es auch um ökonomische Vorteile.

Inwiefern?

Wenn sich in einem Saal alle synchron bewegen, kann man große Massen hineinquetschen. In Deutschland kamen dann noch diese Tanzorchester auf, die Tango zu einer Art Marschmusik gemacht haben. Als ich das zum ersten Mal erlebt habe, dachte ich: Das ist ja der Hammer! (Springt auf und macht hölzerne, dramatische Bewegungen.) Das soll Tango sein? Und das Rumba, mit diesen affektierten Bewegungen? Wir Latinos haben in Europa noch mal von vorn mit dem Unterricht angefangen und im Laufe der Jahre eine alternative Tanzszene aufgebaut.

Braucht man beim Lernen von Tango und Salsa unterschiedliche Herangehensweisen?

Auf jeden Fall. Der Tango ist stärker gedanklich gesteuert. Ich brauche eine Klarheit, was ich machen will, damit die Kombination der Schritte funktioniert. Es gibt dann aber auch ein Pulsieren zwischen Konzentration und Sich-lösen in der Bewegung, ohne diesen Zyklus sieht Tango nur verkrampft aus. Bei der Salsa ist es andersherum: Da läuft man in der Grundbewegung fast wie ein Hamster im Rad und weiß manchmal gar nicht, ob man eine Figur gelernt hat oder ob sie sich einfach ergibt. Aber plötzlich ist sie da, sie geht auf, alles passt! Wenn der Ethnologe in mir durchkommt, frage ich die Schüler: „Glaubt ihr, eure Strategien zur Alltagsbewältigung funktionieren auch beim Salsatanzen?“ Oft tun sie das nämlich nicht. Eine typische Strategie in Deutschland lautet: Ich mache erst den Mund auf, wenn ich alles geistig durchdrungen habe. Der Bescheidwisser ist kulturell sehr angesehen. Bei polyrhythmischen Prozessen passiert aber viel gleichzeitig, und wenn du auf eines zu sehr achtest, rutscht dir das andere vielleicht aus­ein­ander. Du musst übers Probieren gehen und bewegst dich immer an der Grenze zum Fehler, in einem Bereich, wo du Nebel vor den Augen hast und nicht weißt, was sich jetzt bewegen müsste: dein linker oder rechter Fuß, deine Schulter oder deine Hüfte. Du wirst zum Tollpatsch. Das ist in Deutschland für viele regelrecht verletzend.

Transportieren lateinamerikanische Tänze Sexismus?

Der Nährstoff dieser Tänze ist Sinnlichkeit und Sexualität, auf einer spielerischen Ebene. Insofern sind sie untrennbar mit der kulturellen Konstruktion der Bilder von Mann und Frau verbunden. Ob das sexistisch ist oder nicht – es geht gar nicht anders. Der Tanz sieht einfach besser aus, wenn die Frau Freude an der Weiblichkeit und der Mann an der Männlichkeit hat. In Lateinamerika gibt es das permanent. Da erwarten zum Beispiel Frauen, dass sie angesehen werden. Ich kenne zig Latinas in Berlin, die sagen: Wenn du hier auf der Straße gehst, fühlst du dich wie ein toter Fisch.

Genderneutralen Unterricht gibt es bei Ihnen nicht?

Ich habe nichts gegen gleichgeschlechtliches Tanzen, es kommen auch lesbische und schwule Paare zu mir. Für mich gilt bloß, dass man nur richtig gut tanzen lernt, wenn man die eine oder die andere Rolle übernimmt. Ich rede auch nicht wie andere Lehrer von „Folgenden“ und „Führenden“, sondern von Frau und Mann. Die vermeintlichen Machos in Uruguay haben da übrigens viel weniger Pro­ble­me. Wenn beim Tango Frauen fehlen, fragen sie: Machst du die Frau oder den Mann? Wenn ich dagegen hier beim Unterricht einem Mann etwas zeigen will und mit ihm tanze, ist das für manch einen viel zu viel Nähe. Der stirbt in meinen Armen!

Was macht das Tanzen mit Beziehungen?

Ich bin Atheist, aber angenommen, ich stünde mal vor Petrus, könnte ich sagen: Du kannst mich reinlassen, ich habe genauso viele Leute zusammen- wie auseinandergebracht. Einigen wird beim Tanzen klar, dass sie auf der Gefühlsebene nicht zueinander passen. Wir tauschen auch mal die Tanzpartner im Unterricht, da merken sie, dass es mit anderen manchmal viel besser funktioniert. Und irgendwann kriege ich eine Mail: Wir kommen nicht mehr. Umgekehrt finden sich auch viele übers Tanzen. Gerade Frauen betrachten es als geschützte Zone, um potenzielle Partner kennenzulernen. Übrigens: Frauen melden sich häufiger im Frühjahr an, Männer im Herbst. Keine Ahnung, ob das mit den Hormonen zusammenhängt, aber nach mehreren Jahrzehnten ist das Empirie.

Kann Tanzen Therapie sein?

Der Tango etwa kann helfen, Trauer und Verlust zu verarbeiten. Viele Leute, die eine Trennung hinter sich haben, hören diese Musik und sagen: Das ist mein Tanz! Aber ich wehre mich dagegen, dem Tanzen einen medizinischen Charakter zuzuschreiben. Für mich ist das eher Entwicklungshilfe.

Für steife Deutsche?

Ja, natürlich. Ich war im Rahmen meines Ethnologiestudiums anderthalb Jahre in Paraguay, da habe ich mich zusammen mit anderen für die Rechte der Indigenen im Chaco eingesetzt. Eine tolle Erfahrung, aber als ich zurück war, dachte ich: Bist du bescheuert? Warum machst du Entwicklungspolitik in Südamerika? Hier in Deutschland können sich die Leute meist nicht geschickt bewegen, tanzen und feiern, ihr Metier ist Organisieren und Geld verdienen. Ich habe das als tiefe Unterentwicklung wahrgenommen.

Südamerika ist Ihre Heimat – Sie sind Anfang der 70er Jahre als Jugendlicher nach Deutschland gekommen.

Ich bin in Uruguay aufgewachsen, wo meine Eltern, die aus Danzig stammten, seit Ende der 40er Jahre lebten. Meinen Vater, einen begeisterten Segelflieger, hatten die Nazis gegen Ende des Kriegs als Pilot einer Messerschmidt an die Front geschickt, aber er desertierte nach Südfrankreich. Von dort ging er nach Uruguay. Meine Mutter hat er zu sich geholt, die beiden kannten sich von der Schule. Ihr Vater war Bürgermeister in einem Dorf gewesen, er hatte sich den Nazis widersetzt und kam im KZ ums Leben.

Und was hat Sie wieder nach Deutschland verschlagen?

Mein Vater hatte mich für das Fliegen begeistert, und in Uruguay konnte man die Ausbildung nur bei der Luftwaffe machen. Zur Vorbereitung ging ich auf eine Militärschule. Das war in der Zeit, als die Offiziere begannen, den Putsch von 1973 vorzubereiten. Ein paar Freunde und ich, wir waren eine kleine Oppositionsgruppe und haben schon mal den Mund aufgemacht, wenn wir gegen die Kommunisten indoktriniert werden sollten. Bis wir eines Tages unter einem absurden Vorwand im Arrest landeten: Angeblich hatten wir Bier im Offizierskasino geklaut. Nach sechs Wochen kam ein Major der Marine, die etwas demokratischer als die anderen Waffengattungen war. Der hat uns gewarnt und gesagt: Ich lasse euch raus, aber ihr steht auf der Liste. Am besten, ihr verschwindet über die grüne Grenze.

Das haben Sie getan.

Ich habe mir erst mal den deutschen Pass besorgt, aber darin stand mein uruguayischer Geburtsort, der hätte mir wenig Schutz geboten. Also habe ich mich versteckt. Ein Bekannter meines Vaters besorgte mir einen Platz als Überarbeiter auf der „Cap San Lorenzo“ von der Reederei Hamburg-Süd. Fast wäre es noch schiefgegangen, weil das Heer den Hafen von Montevideo abgesperrt hatte. Aber damals kam mir schon das Tanzen zugute: Die Tochter des Botschaftsfahrers, die ich auf einem Schwof kennengelernt hatte, half mir. Ihr Vater hat mich quasi mit der Diplomatenpost aufs Schiff geschmuggelt.

Was ist ein Überarbeiter?

Das ist der seemännische Begriff für jemanden, der sich die Überfahrt durch Arbeit verdient. Ich habe von Montevideo bis Hamburg Rost geklopft. In Frankfurt habe ich Abi gemacht, aber als ich zum Bund sollte, habe ich gesagt: Nee, nicht noch mal. Und bin nach Berlin.

Sie haben dann Ethnologie studiert und irgendwann mit dem Tanzunterricht angefangen. Wann genau?

Alles fing mit dem Horizonte-Festival der Berliner Festspiele 1982 an. Da gab es in der Waldbühne das bis dato größte Salsakonzert in Deutschland: Die größten Salsaorchester waren da – Celia Cruz, Willie Colón, Rubén Blades, es muss ein Heidengeld gekostet haben, die alle zu holen. Aber auch Astor Piazzola mit seinem Nuevo Tango war in Berlin. Vorher hatte es schon in Sachen Tango gegärt, aber da merkte ich: Jetzt ist die Zeit reif. Der Anfang war hart, es kamen weniger Schüler, als ich hoffte. In meinem ersten Raum in der Bülowstraße habe ich einmal im Monat einen Wochenend-Workshop gemacht, von den Einnahmen habe ich die Miete und die Anzeigen in tip und Zitty bezahlt. Für mich blieb nichts übrig.

Und wovon haben Sie gelebt?

Vom Taxifahren! Erst 1984 wurde es besser, da hatte ich die Berliner weichgekocht (lacht). Mit dem Weltmusikladen Canzone am Savignyplatz habe ich einen Plattenimport organisiert, die ersten festen Kurse kamen zustande, dann konnte ich im Metropol am Nollendorfplatz freitags die Tango-Bar aufmachen. Der Boden war aus diesem geriffelten Blech, mit Gummisohlen konntest du dich kaum drehen. 1986 kam die Havanna-Bar mit Salsa dazu.

Seitdem ist viel passiert. Wie viele Tangoschulen gibt es heute in Berlin?

Uns eingeschlossen ein halbes Dutzend. Daneben gibt es viele kleine: Ballettstudios, die auch mal Tango anbieten, Volkshochschulkurse, freie Lehrer, die im Berliner Zimmer unterrichten. Den großen Tangoclub hat nie jemand aufgemacht, aber es gibt zig Räume, die für Tanzabende, die milongas, angemietet werden.

Und Salsaschulen?

Viel weniger, was auch an der Politik der beiden großen Clubs liegt, die Salsa spielen – dem Soda Club in der Kulturbrauerei und dem Havanna in Schöneberg. Durch die Einführungskurse, sie vor den Clubabenden anbieten, verhindern sie, dass die Schulen größere Bedeutung für Anfänger bekommen. In den Clubs kann man natürlich nicht viel lernen, mit 40 Paaren in einem Raum, da wurschtelt man sich halt durch.

Noch eine abschließende Fra­ge: Was fehlt jemandem, der nicht tanzt?

Du lernst so viel durchs Tanzen: Du lernst, Musik sehr differenziert wahrzunehmen, du lernst deinen Körper besser kennen, auch ein bisschen Selbstdarstellung, jenseits von Narzissmus. Und du trainierst Empathie. Du kannst ja weder führen noch dich führen lassen, wenn du kein Gespür für den anderen entwickelst. Aber was dir ohne das Tanzen am meisten fehlt, ist sehr viel Freude. Das trifft auch auf den Tango zu, der so ernst ist. Wenn du sinnlich und präzise getanzt und merkst, die Kombinationen haben toll gesessen: da kommt ein ungeheures Gefühl von Freude auf.

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