Interview mit Schriftstellerin: „Der heutige Wahnsinn wurzelt im Putsch von 1980“
Ihr Roman „Stumme Schwäne“ erschien gerade auf Deutsch. Wir sprachen mit der Schriftstellerin Ece Temelkuran über Unterdrückung und Sprache.
Wir trafen Ece Temelkuran in Köln, um über ihren Roman „Stumme Schwäne“ zu sprechen, der gerade in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die 1973 in İzmir geborene Anwältin, Journalistin und Schriftstellerin erzählt darin von der Zeit nach dem Putsch 1980 in der Türkei, aus der Sicht von zwei Kindern aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten.
taz: Wie kam Ihnen die Idee, den Roman „Stumme Schwäne“ zu schreiben?
Ece Temelkuran: Ich wollte erzählen, wie die Unterdrückten von gestern zu den Unterdrückern von heute geworden sind. Viele Machtfiguren der Gegenwart berufen sich auf das Opfernarrativ, zum Beispiel in der Türkei. Deshalb lautet der türkische Originaltitel des Buchs auch „Devir“, also „Zyklus“. Das ist ein verdummender, nervenaufreibender, qualvoller Teufelskreis.
Welche der beiden Seiten nehmen Sie ein?
studiert Online-Journalismus an der TH Köln und setzt sich für Gleichberechtigung der Geschlechter ein. Sie ist in Antalya geboren und wohnt seit 2009 in Deutschland.
Keine, denn als Autorin sollte man dem Unterdrücker und dem Unterdrückten gegenüber dieselbe Distanz einnehmen, deren Geschichten verstehen und erzählen können. Aber viele Menschen, die ich kenne, haben sich entweder politisch neben den Unterdrücker, also die Regierung gestellt, oder sie haben in ihrem eigenen kleinen Umfeld die Rolle des Unterdrückers selbst übernommen. Ich glaube daran, dass die Welt nicht nur aus diesen Extremen besteht, sondern ein pluralistischer Ort ist.
Wieso spielt die Geschichte zur Zeit des Putsches im Jahr 1980?
Die Erzählungen, die die Menschheitsgeschichte am meisten beeinflussen, sind Machtwechsel. 1980 ist eine Zeit, in der die Grausamkeit der Unterdrückung in Vergessenheit gedrängt wurde. So gesehen ist dieser Putsch wohl einer der erfolgreichsten in der Geschichte: Ein Putsch, der seine Existenz bald vergessen ließ. Viele Menschen haben kaum Erinnerungen an diese Zeit, oder tun zumindest so, als würden sie sich nicht erinnern, weil sie es schlicht nicht wollen. Dabei ist der Wahnsinn, der heute in der Türkei regiert, in eben jener Zeit verwurzelt.
Wie kann es zur kollektiven Verdrängung überhaupt kommen?
Die Geschichte der Türkei basiert auf dem Vergessen. Dieses Land ist so erfolgreich im Vergessen, dass wir uns an Ereignisse, die wenige Wochen zurückliegen, nicht mehr erinnern können, und dazu auch noch an die von der Regierung vorgegebene Version glauben. Wir sind empfänglich für Lügen und die Neuschreibung von Geschichte.
Was meinen Sie damit konkret?
Die Gründungszeit der Republik ist voller Traumata des sich auflösenden osmanischen Reiches. In gewisser Weise war es berechtigt, dass die Republikgründer mit dem Argument „das Geschehene vergessen, da ein neues Leben beginnt“, die Geschichte neu geschrieben haben. Sie wollten, dass das Leben weitergeht, aber das tut es nicht so einfach. Anatolien ist aufgrund seiner geografischen Lage immer schon ein Brückenort von Migration gewesen. Menschen sind gekommen und gegangen, daher sind wir besonders gut im Vergessen und Verdrängen, so wie wir es mit den Ereignissen von 1980 getan haben. Deshalb stehen wir heute vor einer gespaltenen Gesellschaft.
Es scheint in diesen Tagen viele Parallelen zur Zeit nach dem Putsch von 1980 geben.
Ja, das stimmt. Das sieht man allein, wenn man die Klatschblätter und Politnachrichten von heute und damals vergleicht. Es ist, als würden wir in einer Dauerschleife leben. In jeder Generation werden kluge, aufrichtige, kreative, gutmütige, progressive Menschen vernichtet, ins Exil getrieben, gefoltert, zunichte gemacht, getötet oder man lässt sie verschwinden.
Und wer bleibt übrig?
Während der diplomatischen Krise mit Europa konnten wir beobachten, dass eine Reihe von wahnsinnigen Menschen sich auf die Straßen begeben und seltsame Dinge getan haben. Es scheint sich um eine Art Massenhysterie zu handeln. Die Türkei scheint von außen gesehen ein Ort zu sein, an dem nur Verrückte leben. Die Vernünftigen, die an Recht und Ordnung glauben, gibt es zwar noch, aber sie schweigen. In Anbetracht des Wahnsinns, der Vulgarität und Banalität sind sie nur noch sprachlos. Diese Menschen sind das Produkt von 1980.
Was hat der Putsch von 1980 den gesellschaftlich am nachhaltigsten verändert?
In den 1980er Jahren wurde damit begonnen, einzelne Wörter und Begriffe zu verbieten. Die Sprache wurde zerstört und deshalb gibt es heute Menschen, die ihr Leid oder ihre Bedürfnisse nicht artikulieren können. Es wird viel über Mord und Folter dieser Zeit berichtet, aber kaum über die Zerstörung der Sprache. Vernichtet man die Sprache eines Landes, vernichtet man auch dessen Denkvermögen.
Der Eingriff in die Sprache hält auch heute an.
Ja, zum Beispiel durch die Osmanisierung der Sprache. Vor allem in den vergangenen 15 Jahren verwenden Politiker der Mehrheitsgesellschaft unbekannte osmanische oder arabische Vokabeln. Mit der Bezugnahme auf islamische Inhalte werden politische und gesellschaftliche Debatten auf eine Ebene übertragen, an der säkulare Menschen nicht mehr teilnehmen können.
Der Ursprung für all dies geht auf das Jahr 1980 zurück. Daher ist es zum Beispiel auch interessant, dass das 1980 verbotene Wort für Widerstand „Direnme“ im Zuge der Gezi-Proteste im Jahr 2013 wieder verstärkt gebraucht wurde. Sowohl das Gute als auch das Schlechte wird weitergegeben. Wenn es 2013 nicht zu den Gezi-Protesten gekommen wäre, hätte ich diesen Roman sicher nicht geschrieben.
Was ist der Grund für die gesellschaftliche Normalisierung von Gewalt, die sie auch in ihrem Roman thematisieren?
Die Massen mögen kein Durcheinander, sie bevorzugen die Einheitlichkeit. Zum Beispiel die Transfrau Bülent Ersoy, eine Figur aus dem Roman, wird nicht nur von der Regierung, sondern auch von der Gesellschaft gejagt und verfolgt. Dahinter steckt der Wunsch nach Standardisierung. In den 1970er-Jahre wurden alle Farben und alle Menschen jeglicher Coleur sichtbar, dann aber kamen die 80er-Jahre und alle Farben wurden verboten, alles wurde grau. So wie auch schon 2013 nach Gezi die bunten Wandschriften mit grauer Farbe überstrichen wurden.
In „Stumme Schwäne“ gewöhnen sich die Jugendlichen selbst an die schlimmsten Zustände. Wie erklären sie diese Teilnahmslosigkeit?
Wegsehen ist eine sehr gängige, menschliche Reaktion. Die Deutschen haben das zum Beispiel während des zweiten Weltkriegs erlebt. Darauf zu hoffen, dass es nicht „noch schlimmer“ werden kann und wenn doch, dann zu erwarten, dass es jetzt aber wirklich nicht noch schlimmer werden kann… Genau das ist gerade die Haltung der US-Amerikaner zu Trump. Sie sagen sich: „Er wird schon keine Mauer zu Mexiko bauen.“ Doch was sagst du, wenn er es doch tut? Wenn deine einzige Antwort lautet: „das schafft er nicht“, dann hast du die Orientierung verloren.
Gibt es einen bestimmten Grund, dass „Stumme Schwäne“ aus der Sicht von Kindern erzählt wird?
Die Sicht der Kinder ist rein, sie verändert die Realität nicht aufgrund von Angst. Erwachsene hingegen tun genau das: Sie versuchen die Realität so zu formen, dass man sich trotz allem mit ihr arrangiert.
Das Haus der Figuren Sevgi und Aydin befindet zwischen dem Internat und der Verwaltung, also genau zwischen links und rechts. Sie sind nicht nur eingeklemmt zwischen den Fronten, sondern haben auch ständig Zank miteinander. Kann man sagen, dass die beiden den türkischen Mittelstand repräsentieren?
Ja, das tun sie. Aber nicht nur den Mittelstand der Türkei, sondern weltweit. Menschen die versuchen, sich selbst und ihre Kinder zu schützen und deshalb ein anderes Leben beginnen. Das ist es ja, was den Mittelstand ausmacht. Er wünscht sich Sicherheit, doch dieser Wunsch kann Menschen dazu verleiten recht unmoralische Dinge zu tun.
Die Türkei macht gerade eine existenzielle Zeit durch und viele Menschen beteiligen sich nicht am politischen Widerstand, haben Angst davor, Haltung zu zeigen. Wie können Menschen dazu motiviert werden?
Es gibt in der Türkei keinen von der Politik geschützten Raum mehr. Niemand kann sich und sein kleines unbedeutendes Leben davon fernhalten. Die Menschen sind sich dessen bewusst und planen dementsprechend entweder zu gehen oder zu bleiben, um zu kämpfen. Sobald etwas passiert, das den Mittelstand aus seiner Bequemlichkeit reist oder sein Sicherheitsgefühl erschüttert, wird es einen Systemwechsel geben. Die Menschen begreifen langsam, dass etwas getan werden muss.
Was dürfen deutsche Leser*innen von diesem Roman erwarten?
Nach der Emigration der sogenannten Gastarbeiter hat Deutschland in den 1980er-Jahren einen Zulauf von Intellektuellen aus der Türkei erlebt. Das ist auch gerade wieder der Fall- Die Veränderungen in der Türkei betreffen auch explizit die deutsche Gesellschaft. Auch deutsche Leser*innen sind Adressaten dieses Romans.
Wofür stehen die Schwäne im Roman?
Für das Schöne und Zarte, für alles, was uns im Leben nützt. Der Schwan steht aber auch für Eigensinn, den es braucht, um das Schöne zu erschaffen und zu erleben. Menschen fragen mich, ob es Hoffnung gibt. Dabei ist Hoffnung nicht das Wichtige, denn diese kann versiegen, nicht aber der dem Menschen innewohnende Schöpfungsdrang und Eigensinn das Schöne zu erschaffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“