Interview mit Alexander Sokurow: "Faust ist einfach nur ein Demagoge"
Männer, die behaupten, sie wüssten, was sie tun, sind dem russischen Regisseur suspekt. Seine Verfilmung von "Faust" dreht sich um genau diesen Typ von Mann.
taz: Herr Sokurow, in Ihrem Film "Moloch" schwärmt Hitler davon, in der Ukraine Brennnesselfelder zu pflanzen, in "Faust" nimmt der Titelheld ein Brennnesselfußbad. Zweimal Brennnesseln - ist das ein Zufall?
Alexander Sokurow: Das ist natürlich kein Zufall, eher ein Witz, den wir uns gestattet haben. Brennnesseln wurden damals in Deutschland als Naturheilmittel verwendet.
Wie wirken Brennnesseln?
Sie sind beruhigend und gut für die Haut.
"Moloch", Ihr Film über Hitler, steht am Anfang einer Tetralogie, "Faust" am Ende, und vermutlich sind Brennnesseln nicht das Einzige, was die Filme teilen.
1951 geboren, ist einer der wichtigsten russischen Regisseure der Gegenwart. Bekannt wurde er vor allem durch eine Tetralogie über mächtige, vermessene Männer, die mit "Moloch" (1991) – über Hitler – beginnt, mit "Taurus" (2000) – über Lenin – und "Solntse" ("Die Sonne", 2005) – über den japanischen Kaiser Hirohito – weitergeht und mit "Faust" (2011) zum Abschluss kommt. Außerdem drehte er in einer einzigen Einstellung eine Reise durch die Leningrader Eremitage und durch 200 Jahre russischer Geschichte ("Russian Arc", 2002).
Es geht um Männerschicksale, das heißt, um Männer, die behaupten, sie wüssten, wie sie alle Völker der Welt glücklich machen können und was man dafür tun muss. Lenin, Hitler und auch Faust - der wollte irgendwelche Städte errichten und alle glücklich machen, aber was daraus geworden ist, das wissen wir ja. Wir folgen diesen Leuten, die sagen, sie wüssten, was zu tun ist, aber sie wissen es gar nicht.
Spielt es eine Rolle, dass sich der erste und der letzte Teil der Tetralogie mit deutschen Stoffen befassen?
Am Anfang von "Faust" gleitet die Kamera über eine Modelllandschaft aus Bergen und Meer, sie nähert sich einer Stadt, ein harter Schnitt unterbricht ihren Flug, ein Close-up auf ein schrumpeliges Körperteil folgt. Nach ein paar Sekunden begreift man: Es ist ein Penis, und der Penis gehört einem Toten, der seziert wird. Ein Hautlappen klappt Richtung Kamera, bevor die sich ein wenig zurückzieht, sodass sich der Bildraum weitet. Faust (Johannes Zeiler) und sein Schüler Wagner (Georg Friedrich) wuseln um die Leiche herum und debattieren über die Frage, wo die Seele ihren Sitz hat. Im Kopf? Im Herzen? Oder doch eher in den Füßen, weil die zu kribbeln beginnen, sobald man starke Gefühle verspürt?
Diese Eröffnung legt nahe, dass Alexander Sokurows Filmversion von Goethes "Faust" wenig Ehrfurcht aufbietet. Der russische Regisseur will von den großen, bedeutungsschweren Fragen, von Gut und Böse, von Gott und Teufel nichts wissen, stattdessen treibt er Goethes Drama das Metaphysische aus. Die Figuren bewegen sich in verstellten, engen Räume, die Proportionen sind verzerrt, und die Farbigkeit der Welt ist ins Graugrüne verschoben. Sokurows Interesse gilt unwillkürlichen Gesten, vergeblichen Bemühungen und der daraus resultierenden, sanft-grotesken Komik, sein "Faust" ist eine seltsam amorphe Fantasie, ein Traum, den man Nacht für Nacht träumt, ohne ihn je bewusst zu erinnern. Bei der Filmbiennale in Venedig gab es dafür im September den Goldenen Löwen.
Ich denke nicht, denn ich begreife Faust als Figur, die über allen Nationen steht. Natürlich ist Goethe der große deutsche Dichter, und die Figuren sind, wie sie sind, weil sie aus Deutschland kommen, aber es könnte auch sein, dass einer von den deutschen Avantgardisten "Faust" in China ansiedelt.
Wann haben Sie "Faust" zum ersten Mal gelesen? In der Schule?
Ja, in der zehnten Klasse, auf Russisch, das ist sehr lange her. Ich hatte natürlich nicht die leiseste Ahnung, wie vielschichtig dieses Werk ist, das habe ich erst später begriffen. Damals war es für mich eine beeindruckende Entdeckung, alles andere kam später.
Sie haben den Film komplett nachsynchronisiert. Was erreichen Sie dadurch?
Ich habe alle meine Filme nachvertont, nachdem sie abgedreht waren. Viele Produzenten können das nicht verstehen. Aber während man dreht, müssen sich die Schauspieler auf verschiedene Sachen konzentrieren, so dass beim Sprechen etwas verloren geht. Wenn wir es im Studio nachvertonen, können sich die Schauspieler ganz und gar darauf konzentrieren, wie sie intonieren. Die deutschen Schauspieler, die diese Arbeitsweise nicht gewohnt sind, waren sehr glücklich darüber.
Gleich am Anfang von "Faust" landet man auf einem Seziertisch und blickt in das Innere eines Körpers hinein, und später geht es immer wieder um körperliche Bedürfnisse, ums Essen und auch um den Stuhlgang. Warum steht das Körperliche in Ihrer Adaption des "Faust"-Dramas so sehr im Vordergrund?
Weil es um lebendige Menschen geht. Es sind keine Helden der griechischen Tragödie, die nur irgendwelche Gedanken produzieren und keinen Leib haben. Hier geht es um Leute, die leibliche Bedürfnisse haben und von diesen leiblichen Bedürfnissen getrieben werden. Goethe hat sich ja für Fausts Kopf interessiert, für seine Gedanken, für alles andere nicht. Aber wir sprechen hier von Film, das heißt: Wir brauchen etwas Filmisches.
Über das, was Goethe sich vorstellte und was Sie daraus machen, möchte ich später noch sprechen - erst noch eine konkrete Frage: Wie entsteht denn der Körper des Mauritius, der bei Ihnen an die Stelle des Mephistopheles tritt? Mit seinem Schweineschwänzchen am Rücken und all den Wülsten sieht er sehr fremd aus.
Eigentlich hatte ich in ihm etwas Geschlechtsloses gesehen, es kommt gar nicht darauf an, ob das Schwänzchen oben, hinten oder vorne ist. Er experimentiert mit sich, er sucht sich, der hat keinen maskulinen Antrieb in seinem Leben, er hat einfach zu viel von allem. Ein bisschen viel an den Hüften, ein bisschen viel an den Beinen, und dann noch völlig unmotiviert die Flügel, die er sich einbildet; er ist ja kein Engel. Aber er glaubt fest daran, im Finale zum Beispiel, wenn er sich auf den Rücken wirft und denkt, er reibe sich die Flügel. Wie ein Kind.
Zu den grotesken Körpern passen die Räume und die Bewegungen der Figuren in den Räumen - die drängeln sich oft in toten Winkeln und engen Gängen, schieben sich zu dritt, zu viert, zu fünft in eine Ecke. Warum?
Als ich das erste Mal Goethes Haus in Weimar besucht habe, habe ich solche Ecken und Winkel entdeckt, diese Öfen, die niedrigen Decken und ärmliche Möbel, er hat dort wohl in ziemlich ärmlichen Verhältnissen gewohnt, obwohl er Minister war. Und das findet sich im Film wieder - ich habe mir vorgestellt, dass die Leute in der Zeit in Deutschland so gelebt haben, außerdem haben wir sehr genau recherchiert und historische Dokumente gewälzt. Zuerst hat man den Hauptteil des Hauses gebaut, dann hat man Boden dazugekauft und angebaut, und so kams, dass ein Fenster, das ursprünglich ein Außenfenster war, zu einem Korridor zeigte, und dann hat man noch ein Fenster eingebaut, alles war sehr verwinkelt, und plötzlich kam die Küche in die Ecke. Ein lebendiges Haus, wann immer man Geld hatte, hat man angebaut. Und genauso sieht das Haus von Faust aus.
In fast allen Ihren Filmen arbeiten Sie mit verzerrten Proportionen, die Körper erscheinen flacher als gewöhnlich, das ist so etwas wie Ihre Signatur. Was steckt dahinter?
Das kommt von der Malerei des 19. Jahrhunderts, die ich sehr liebe und die ich in Film umzuwandeln versuche. Alle Maler arbeiten mit flachen Flächen, eine Leinwand ist eben flach; das ist ja im Kino eigentlich nicht anders. Trotzdem versuchen alle, dieser flachen Fläche eine Dimension hinzuzufügen. Ich möchte dieses Spielchen gar nicht spielen.
Und weil Sie ein so großer Freund der Malerei des 19. Jahrhunderts sind, sieht Fausts Zimmer aus wie die Stube, in der Spitzwegs armer Poet hauste?
Spitzweg hat den Alltag im 19. Jahrhundert am ausführlichsten beschrieben. Es gab ja weder das Kino noch die Fotografie, und Spitzweg war in allen seinen Bildern sehr präzise, man kann darauf vertrauen, dass es so war, wie er es gemalt hat.
Warum denn überhaupt das 19. Jahrhundert? "Faust" spielt doch im 16. Jahrhundert.
Ja, der Film spielt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, wir haben den Stoff einfach umgesiedelt, denn das ist Goethes Zeit, er müsste dieses Bild gehabt haben.
Sie haben vorhin gesagt, dass es bei Goethe um Gedanken geht, bei Ihnen um Körper. In der "Faust"-Adaption von Friedrich Wilhelm Murnau von 1926 geht es sehr wohl um die großen metaphysischen Fragen, um den Kampf von Gut und Böse. Sie dagegen treiben Ihrem Film das Metaphysische aus, oder?
Da haben Sie völlig recht, ich grenze das Metaphysische aus, und zwar aus dem Grund, dass man das Metaphysische schwer in Bilder fassen kann, das ist eher etwas für die Literatur. Das Filmische ist eben das Menschliche, unser Faust ist sehr real, sehr leiblich, menschlich, fleischlich.
Das heißt aber auch, dass Sie eine wesentliche Bedeutungsschicht des Dramas verwerfen.
Murnau hat es leichter gehabt, er hat einen Stummfilm gedreht, er musste nicht mit Worten arbeiten. Und eigentlich ist in seinem Film auch kein Goethe zu sehen, da ist ja nur Murnau! Der hat nämlich ein Märchen geschaffen, mit Faust als Greis, mit langem, wallendem Bart, das ist nicht die Figur, die Goethe erdacht hat.
Am Anfang, wenn Faust und Wagner die Leiche sezieren, suchen sie nach dem Sitz der Seele, und finden ihn nirgends. Nun ist "Faust" die Geschichte eines Mannes, der seine Seele verkauft. Wie kann er etwas verkaufen, das es nicht gibt?
Das ist eine schwierige Frage. Faust selbst hat auch nicht ganz begriffen, ob zum Beispiel Margarete eine Seele hätte oder nicht, er hat ja nicht mal in der Leiche die Seele entdeckt. Aber wer weiß, möglicherweise hat Wagner die Seele aufgespürt, immerhin hat er den Homunkulus erschaffen, leider stirbt dieser Homunkulus, und wir wissen nicht, ob er eine Seele hatte. Vielleicht ist Wagner der wirkliche Gelehrte. Und Faust ist einfach nur ein Demagoge, er sucht nach irgend etwas und redet viel, aber er schafft am Ende gar nichts.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland