Interview Jugendkriminalität: "Der Koran spielt keine Rolle"
Jugendliche Intensivtäter weisen oftmals einen Migrationshintergrund auf, sagt der Psychologe Haci-Halil Uslucan. Eine gewaltfreie Erziehung jedoch müsste auch in Migrantenfamilien stärker gefördert werden.
taz: Herr Uslucan, neigen junge Deutschtürken mehr zur Gewalt als junge Deutsche?
HACI-HALIL USLUCAN, 1965 in der Türkei geboren, ist Privatdozent für Psychologie an der Universität Potsdam. Nach seiner Dissertation leitete er ab 1999 das Projekt "Jugendgewalt" an der Universität Magdeburg, wo er sich 2006 habilitierte. Seit 2000 wirkte er an der Kampagne "Gewaltfreie Erziehung" der Bundesregierung mit. Er hat zahlreiche Fachbeiträge und Fachbücher zu den Themen Jugendgewalt und Migration publiziert.
Haci-Halil Uslacan: So lässt sich diese Frage kaum beantworten. Es ist ja bekannt, dass Migranten etwa an den Hauptschulen nun einmal überproportional vertreten sind. Wenn man nur nach Nationalitäten vergleicht, erhält man immer ein verzerrtes Bild.
Und sonst?
Wenn man den Bildungshintergrund in Betracht zieht, sind die Unterschiede nicht mehr so groß, jedenfalls nicht bei der klassischen Jugendgewalt. Wo sich in unseren Studien Unterschiede zeigen, ist bei der Akzeptanz von Gewalt: Billigung von Gewalt oder ein bestimmtes Männlichkeitsbild ist bei türkischstämmigen Jugendlichen weiter verbreitet. Bei der aktiven Ausübung von Gewalt sieht das anders aus. Wir haben Jugendliche im Alter von 13 bis 15 nach Formen von Gewalt gefragt, die nicht bei der Polizei aktenkundig werden, also Schubsen, Treten, Drohen, auch Faustschläge - da konnten wir keine großen Unterschiede feststellen. Das ist aber natürlich nicht zu vergleichen mit Intensivtätern, von denen derzeit so viel die Rede ist.
Aus diesem Problem speist sich ja die aktuelle Debatte: dass sehr viele der Intensivtäter, die in deutschen Großstädten registriert sind, einen Migrationshintergrund aufweisen. Woran liegt das?
Bei Intensivtätern zeigt sich, dass sie oft schon sehr früh durch Gewalttätigkeit aufgefallen sind, manchmal schon im Kindergarten. Oft geht dieses Verhalten auf psychische Störungen zurück. Wenn so etwas nicht frühzeitig erkannt wird oder fälschlich auf die Kultur oder das Temperament geschoben wird, dann kann dies zu einer negativen Entwicklungsspirale führen - bis hin zu Gewaltkarrieren, die nur schwer zu therapieren sind. Bei solchen Jugendlichen muss man genau hinschauen, was da schiefgelaufen ist. Solche Kinder sind ja auch für ihre Eltern nur schwer zu erziehen. Viele spätere Intensivtäter haben schon von ihren Eltern Gewalt erfahren und so gelernt, sich mit Gewalt durchzusetzen. Und viele Studien zeigen ja, dass Gewalt im Elternhaus ein wichtiger Faktor für die Entwicklung ist.
Die Berliner Grünen-Politikerin Bilkay Önay hat gefordert, das Problem der Gewalterziehung in Einwandererfamilien stärker ins Blickfeld zu nehmen. Hat sie recht?
Ja, denn Gewalt gegen Kinder hat eindeutig negative Folgen für deren Entwicklung. Auch bei Migrantenfamilien darf man da nicht wegschauen oder nach kulturellen Gründen suchen: Da muss interveniert werden - wobei man sich über die richtigen Mittel streiten kann. Dass Gewalt gegen Kinder in Migrantenfamilien per se häufiger vorkommt, konnten wir in unseren Studien allerdings nicht feststellen.
Jeder vierte türkische Jugendliche habe Züchtigungen durch die Eltern erfahren, hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen festgestellt.
Ja, nach seiner Studie haben Migranten höhere Werte; und türkische Jugendliche werden häufiger geschlagen als solche aus Jugoslawien.
Woran liegt das?
Eine Erklärung wäre, dass manche Einwanderergruppen stärker aus ländlichen, andere aus eher urbanen Regionen rekrutiert wurden. Man weiß, dass sich Eltern bei der Erziehung an ihren eigenen Erfahrungen orientieren. Und je rückständiger und vormoderner die eigene Erziehung war, desto häufiger greifen sie zu archaischen Erziehungsmustern.
Der Einfluss der Tradition?
Tradition würde ich nicht als wichtigsten Faktor sehen.
Antiautoritäre Erziehung ist in der Türkei doch eher unbekannt, oder?
Zur Türkei gibt es Studien aus den Neunzigerjahren, nach denen 70 Prozent schon einmal Gewalt erfahren haben. Aber wenn man fragt, ob sie selbst schon einmal Gewalt angewendet haben, dann sind es nur noch 40 bis 50 Prozent. Auch hier ist also ein Rückgang zu verzeichnen. Erziehungsmuster verändern sich - sei es durch Bildung oder positive Vorbilder in den Familien.
Wieso setzt sich ein autoritärer Erziehungsstil bei manchen Einwanderern noch bis in die dritte Generation fort?
Überforderung spielt hier eine Rolle: hohe Kinderzahl, junges Alter der Eltern, beengte Wohnverhältnisse, wenig soziale Unterstützung, wenig soziale Kontrolle. Bei Migranten kommen viele dieser Risikofaktoren zusammen, und dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ein Kind geschlagen wird. Eine gutbürgerliche deutsche Mittelschichtsfamilie hat einfach andere Ressourcen, um als Eltern Stress abzubauen.
Welche Rolle spielt die Religion bei der Gewalterziehung?
Wir haben da keinen Zusammenhang erkennen können. Die Vorstellung ist absurd, dass sich Menschen bei der Erziehung ihres Kindes direkt an biblischen oder koranischen Vorgaben orientieren. In der Bibel wie im Koran findet man Stellen, die Gewalt als Erziehungsmittel legitimieren: "Wer seinen Sohn liebt, der schont die Rute nicht", heißt es etwa in der Bibel. Das kann vielleicht zur Rechtfertigung herangezogen wird - aber nicht als Handlungsanweisung. Eltern richten sich nicht nach heiligen Schriften. Sie orientieren sich an Situationen.
Welchen Einfluss haben meinungsbildende Leitmedien wie etwa die Hürriyet?
Auch eine Zeitung wie die Hürriyet ist hier in den letzten Jahren sensibler geworden und hat vor einigen Jahren eine große Kampagne gegen häusliche Gewalt durchgeführt. Das Problembewusstsein ist da. Es wäre sicher noch stärker, wenn viele Migranten nicht den Eindruck hätten, dass jede Selbstkritik und das Zugeben eigener Schwächen sofort von interessierter Seite ausgeschlachtet würden. Wenn es eine Vertrauensebene gäbe, dann wäre die Bereitschaft größer, auch heikle Fragen wie häusliche Gewalt selbstkritischer zu diskutieren. Aber das wird natürlich durch solche Kampagnen wie die von Roland Koch zunichte gemacht. Es führt dazu, dass sich Migranten versperren. So kommen wir leider keinen Schritt voran.
Seit 2000 haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung - ein Gesetz, das Rot-Grün gegen den Widerstand der CDU eingeführt hat. Wie lässt sich diesem Recht besser Geltung verschaffen?
Manche Gesetze haben ja die Funktion, erst einmal ein Bewusstsein zu schaffen. Man kann deswegen nicht erwarten, dass alle Eltern deshalb sofort gewaltfrei erziehen. Aber dieses Gesetz müsste viel stärker präsent sein. Und auch in türkischen Medien müsste stärker kommuniziert werden, dass es sich bei elterlichen Schlägen nicht nur um moralisch verdammungswürdige, sondern auch strafbare Handlungen handelt. Die meisten Eltern wollen ja lernbereite und disziplinierte Kinder. Denen muss man klarmachen, dass man mit Prügel nur das Gegenteil erreicht - dass Gewalt nur zu Leistungsverweigerung, schlechteren Ergebnissen in der Schule und Disziplinlosigkeit führt.
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