„Interstellar“ in Darmstadt: Alles ist relativ!
Vom Blockbuster zur Miniaturlandschaft: Das Staatstheater Darmstadt bringt Christopher Nolans „Interstellar“ auf die Bühne.
Christopher Nolan hat dieses Szenario 2014 in seinem Spielfilm „Interstellar“ mit gewohnt monumentaler Gebärde umgesetzt. Solch eine astrale Bildgewalt auf die Bühne zu bringen, stellt eine Herausforderung dar, derer sich gerade das Staatstheater Darmstadt angenommen hat. Der Coup: Jegliche visuellen Effekte werden dabei live erzeugt. Dasselbe gilt für die unzähligen Ortswechsel und Zeitsprünge.
Regisseur Klaus Gehre hat dazu detailreiche Miniaturlandschaften errichten lassen. Wir sehen ein Spielzeugraumschiff, das Wattewolken (auf einer drehenden Walze) durchfliegt, und beobachten Playmobil-Astronauten auf einem Eisplaneten. Sogar eine Szene aus „Casablanca“ läuft mit Barbie-Puppen vor unseren Augen ab.
Arrangiert und mittels zahlreicher Kameras auf Leinwände gebannt werden diese Szenen durch das Ensemble (unter anderem Laura Eichten und Valentin Erb). Zwischen diversen Stationen springen die Spieler:innen umher, fahren Autoscooter oder sitzen in einem echten Geländewagen.
„Interstellar“: Staatstheater Darmstadt. Wieder am 18. und 26. Januar, 1., 16., 23. und 28. Februar
Einstein'sche Relativitätstheorie
Dass die Kulisse mehr an ein Labor als an eine einheitliche Komposition erinnert, passt zum Grundgedanken der Vorlage, geht es ihr doch vor allem um die Einstein’sche Relativität. In dem Kinoepos erstreckt sie sich vornehmlich auf die Zeit. Trotz der unterschiedlichen Geschwindigkeiten dies- und jenseits des Wurmlochs gelingt es Cooper und seiner Tochter spät, wieder in Kontakt zu treten.
Ebenjene logisch schwer zu erklärende Grenzüberschreitung spiegelt sich in Darmstadt in der durchweg offenen Bühne. Jeder ist sozusagen überall und nirgendwo. Oder anders gesagt: Alles ist eine Frage der Imaginationsfähigkeit.
Als wäre dies nicht schon komplex genug, bezieht die Inszenierung mit ihren verschiedenen Ebenen noch weitere Texte ein. Zum Beispiel Heiner Müllers „Der Horatier“ von 1973. Im Kampf mit der Stadt Alba verhilft darin die titelgebende Gestalt Rom zum Sieg.
Gleichzeitig nimmt der Protagonist Schuld auf sich, indem er seine Schwester tötet. Mit dieser Folie will Gehre das Hauptthema seiner Aufführung veranschaulichen, das sich wiederum als jenes von „Faust“ erweist: Jeder Fortschritt fordert seinen Tribut. Es gibt keine Erlösung ohne Verlust.
Mutiges Experiment
Jenes Dilemma hätte man an diesem Abend zweifelsohne organischer aus der Mitte des Theaters heraus, mit Spielkunst und konzentrierten Metaphern beleuchten können. Schade also, dass sich Gehre in einer überfrachteten Challenge mit der aufwendigen Kinoästhetik messen will und ihr in Teilen nacheifert. Mutig ist das Experiment dennoch.
Und was überdies besticht, ist der Gesang. Immer wieder stimmen die Schauspieler:innen eine berührende Version des Songs „Always on My Mind“ an, um dadurch die Liebe als über alle physikalischen Barrieren hinweg verbindendes Element zu feiern – keine schlechte Idee in dieser dunklen Gegenwart!
Habhaft wird man unserer schwierigen Epoche wohl nur, sobald man sie wie durch ein Kaleidoskop zu betrachten versucht, weswegen das Staatstheater Darmstadt unter der neuen Schauspieldirektion von Alexander Kohlmann mit einem vielschichtigen Stückereigen in die Saison startete. War die Sparte unter der vorigen Leitung zuletzt im Dornröschenschlaf versunken, spürt man nun den neuen Drive allein schon in den Diskussionen zu den Premieren.
So etwa zur Wiederentdeckung von Joe Ortons heute mehr als provokativer Klamotte „Was der Butler sah“ von 1969. Einerseits nimmt die Farce mit allerlei ungewollten Travestien die queere Gesellschaft vorweg, andererseits werden vor einer bewusst staubigen Kulisse Altherrenwitze dargeboten. Wie eine „alte Pornokassette“ aus einer früheren Videothek mute das Werk heute an, so Kohlmann in einem Interview.
Dieser komödiantischen Annäherung an Diskurse unserer Tage steht indessen eine archaische Realisierung von Shakespeares „Macbeth“ gegenüber, die mit mehreren schiefen Ebenen auf der Bühne allein den Blick in den Abgrund preisgibt. Statt der einen, alles beantwortenden Botschaft erwartet uns in Darmstadt also gerade ein ganzer Aufriss an Weltdeutungen. Mit „Interstellar“ kommt jetzt noch die kosmische Perspektive von ganz oben hinzu.
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