Integrationspolitik: "Ich bin nicht von Beruf Migrantin!"
Ihre Erfahrungen als Kind türkischer Einwanderer haben sie zur pragmatischen Politikerin gemacht, sagt Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD).
taz: Frau Kolat, die Opposition hat Ihnen schon drei Monate nach Amtsantritt unterstellt, gescheitert zu sein: Erst musste die Wahl des Integrationsbeirats für ungültig erklärt werden, dann kündigte der Integrationsbeauftragte seinen Rückzug an. Zudem kämen von Ihnen keine eigenen Ideen. Wo soll es hingehen mit einer Integrationssenatorin Dilek Kolat?
Dilek Kolat: Zu Recht hat die Opposition nachgefragt, was die Wahl des Integrationsbeirats angeht. Das Parlament hat das Recht, Transparenz zu verlangen. Die Wahl muss aufgrund eines Formfehlers wiederholt werden. Aber allein, dass wir das hier im Haus rechtlich geprüft und dann gesagt haben, wir wollen den Beirat auf ordentlicher Basis starten lassen, zeigt, dass uns das Gremium sehr wichtig ist.
Dann kam die Rücktrittsankündigung von Günter Piening: Auch für Sie überraschend?
Herr Piening wollte nach neun Jahren nicht mehr weitermachen. Das ist seine persönliche Entscheidung. Sie hat nichts mit meinem Amtsantritt zu tun. Wir stimmen in unserer Auffassung von Integrationspolitik sehr überein. Die Konzepte, die Herr Piening entwickelt und umgesetzt hat, sind Bestandteil unserer Koalitionsvereinbarung mit der CDU. Dass er diese Entscheidung getroffen hat, ist schade für die Stadt.
Piening befürchtete, seine Konzepte unter einer rot-schwarzen Koalition nicht umsetzen zu können. Sie haben gesagt, dass Sie keine Konflikte mit der CDU erwarten. Wo stehen Sie integrationspolitisch zwischen Pienings Auffassung, dass Einwanderung die Gesellschaft verändert, und der CDU, deren Integrationsbegriff auf Anpassung setzt?
Es ist klar, dass es bei zwei verschiedenen Parteien auch Differenzen gibt. Wir haben diese Differenzen bei den Koalitionsverhandlungen diskutiert. Das kommunale Wahlrecht etwa ist ein Thema, bei dem wir uns nicht einigen konnten. Wir haben als SPD da die klare Position, dass zu gesellschaftlicher Teilhabe gehört, dass Menschen, die viele Jahre in Deutschland leben, das kommunale Wahlrecht bekommen. Das lehnt die CDU ab. Was wir aber geschafft haben, und das ist auch republikweit ein Novum: Wir haben mit der CDU beschlossen, dass wir die Optionspflicht aufheben wollen, die die hier geborenen Einwanderernachkommen, die zunächst Doppelstaatler sein dürfen, zwingt, sich mit der Volljährigkeit für eine ihrer beiden Staatsbürgerschaften zu entscheiden. Das sehe ich als Fortschritt an. Übereinstimmung gibt es auch bei Themen, die Herr Piening in der Stadt sehr vorangebracht hat: die interkulturelle Öffnung der Verwaltung und die Kampagnen für Einbürgerung. Es gibt in der Koalition den klaren Konsens, das fortführen und voranbringen zu wollen.
Trotzdem noch einmal die Frage: Was bedeutet Integration für Sie?
Für mich ist Integration Teilhabe an Bildung, am Erwerbsleben, am gesellschaftlichen Leben. Es geht darum, dass jugendliche Migranten bessere Schulabschlüsse erreichen, dass ihnen der Übergang von der Schule in den Beruf gelingt, dass die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Migrationshintergrund abnimmt.
Gut, aber auch auf dieser Ebene gibt es noch Differenzen: Ist Teilhabe etwas, was Einwanderinnen und Einwanderer aus eigener Kraft schaffen müssen? Oder muss die Gesellschaft ihre Institutionen so gestalten, dass Partizipation möglich ist?
Ich weiß aufgrund meiner eigenen Biografie genau, was es bedeutet, wenn Chancengleichheit nicht ermöglicht wird. Es ist deshalb für mich ganz klar Aufgabe der Politik, diese Möglichkeit herzustellen und Benachteiligung aufzuheben. Aber es gehört dazu – und diese Aufgabe übernehme ich auch als Integrationssenatorin –, gerade jungen Migrantinnen und Migranten zu sagen: Strengt euch an! Ihr habt es nicht leicht, ihr müsst doppelt so gut sein wie die anderen und euch doppelt so viel anstrengen, damit ihr auch vorankommt. Und ich finde es nicht schlimm, sich anstrengen zu müssen. Das gehört dazu, wenn man benachteiligt ist, das ist die Lebenswirklichkeit. Aber man kann den Menschen nicht sagen, sie sollten sich anstrengen, wenn man ihnen nicht die Chancen dazu gibt, wenn sie etwa per se bei Bewerbungen diskriminiert werden. Da geht es mir um konkrete Perspektiven.
Sind die politisch leichter umzusetzen, wenn Sie sich auf ideologische Debatten mit der CDU gar nicht erst einlassen?
Integrationspolitik ist nicht nur eine ideologische Auseinandersetzung um den richtigen Weg. Es geht auch um pragmatische Ansätze. Den ideologischen Streit führe ich da, wo er zu führen ist. Auch mit der CDU.
Sie sind eingeschult worden, ohne Deutsch zu können. Wie haben Sie das erlebt?
Wir waren damals sehr wenige Kinder mit Migrationshintergrund auf meiner Grundschule. Die Schulen waren noch nicht eingestellt auf Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Im Unterricht wurde das absolut nicht berücksichtigt. Man fiel durch das Raster, und das endete in den meisten Fällen mit einer Hauptschulempfehlung.
Auch bei Ihnen?
Ja. Aber ich bin glücklicherweise auf eine Gesamtschule gekommen, habe dort meine Sprachdefizite aufgeholt, Abitur gemacht und dann studiert. Ich war eine Art Familienprojekt: Mein Vater ist 1963 als Tischler nach Deutschland gekommen, hatte in der Türkei nur ein paar Jahre die Grundschule besucht, meine Mutter ebenfalls. Sie hat hier in einer Textilfabrik gearbeitet. Ich hatte nicht den Bildungshintergrund in der Familie. Meine drei älteren Geschwister haben alle eine Berufsausbildung gemacht. Aber meine Idee, Abitur zu machen und zu studieren, hat meine Familie sehr erfreut. Obwohl sie mir beim Lernen nicht helfen konnten, haben sie sich sehr um mich gekümmert. Sie haben den richtigen Rahmen geschaffen.
Solche auch demütigenden Diskriminierungserfahrungen wie die fast automatische Hauptschulempfehlung – haben Sie das Gefühl, dass das von Politikern, die so etwas nicht erlebt haben, verstanden wird?
Ja. Als ich 1995 in der Bezirksverordnetenversammlung Schöneberg integrationspolitische Sprecherin war, habe ich es auch als meine Aufgabe betrachtet, meine Genossinnen und Genossen für solche Fragen zu sensibilisieren. Und ich war stolz, als ich irgendwann nicht mehr die Einzige war, die etwa über Sprachförderung von Kindern gesprochen hat.
Sie haben sich aber später entschlossen, nicht Integrations-, sondern Haushalts- und Finanzpolitik zu machen.
Ich habe irgendwann bemerkt, dass meine Partei mich verstärkt nur zu integrationspolitischen Themen wahrgenommen hat. Da habe ich mir gesagt: Ich bin doch nicht von Beruf Migrantin! Ich habe ja auch unabhängig von meiner Herkunft Qualifikationen. Ich habe Wirtschaftsmathematik studiert und bei einer Bank gearbeitet. Also habe ich mich auch politisch auf Finanzfragen spezialisiert. Das gehört auch zu meinem Verständnis von Integration: dass es Normalität wird, wenn man als Migrant in der Finanzpolitik oder in anderen politischen Bereichen aktiv ist. Dass Migrantinnen und Migranten auf Integrationspolitik reduziert werden, ist nicht sehr fortschrittlich. Und ich bin zu einer Normalität in der Finanzpolitik geworden.
Und jetzt sind Sie Integrationssenatorin.
Ja, das ist doch super!
Haben Sie damit Ihren Weg nicht wieder verlassen?
Nein. Der bedeutete ja auch nicht, dass ich mich weigere, Integrationspolitik zu machen. Im Gegenteil: Ich konnte auch über Finanz- über Haushaltspolitik Integrationspolitik mitbestimmen. Und ich bin auch jetzt als Senatorin nicht nur für Integration zuständig. Ich habe das Amt gerade in der Kombination mit den Themen Arbeit, berufliche Bildung und Frauen sehr gerne übernommen. Integrationspolitik ist ja keine isolierte Aufgabe: Es geht um Teilhabe, und diese Kombination birgt viele Ressourcen, die zu besseren Chancen für viele Menschen führen.
Lassen Sie uns mal fünf Jahre vorausschauen: Was haben wir dann mit einer Integrationssenatorin Kolat erreicht?
Ich möchte, dass sich die Arbeitsmarktchancen von Migrantenjugendlichen dann erheblich verbessert haben, dass die Arbeitslosigkeit unter Migrantinnen und Migranten deutlich niedriger ist als jetzt. Wir müssen das Thema interkulturelle Öffnung nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in der Wirtschaft und in der gesamten Gesellschaft voranbringen. Der nächste Schritt muss sein, Diversity …
… also die Vielfalt und Verschiedenheit in der Gesellschaft …
… als Prinzip zu verankern. Diversity wird Normalität im alltäglichen Zusammenleben der Menschen hier, und Berlin wird frei von Rassismus sein!
Und wie wollen Sie den Wählerinnen und Wählern vermitteln, dass das Erreichte der SPD zu verdanken ist?
Ich denke, dass die Wählerinnen und Wähler schon ganz genau zwischen SPD und CDU unterscheiden können. Und es wird auch in Zukunft Unterschiede in der Integrationspolitik zwischen uns geben. Wichtig wird sein, zu zeigen, welche guten Ansätze die SPD vorangetrieben hat. Dass die CDU interkulturelle Öffnung als wichtig erachtet, hätte man vor Kurzem nicht gedacht. Das ist doch ein Erfolg, wenn wir bei solchen Themen einen breiteren Konsens herstellen können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz
„Jesus hat wirklich sozialistische Sachen gesagt“