Integrationsmittler Orya über seine Arbeit: „Wir mussten uns verstecken“
Naim Orya war Basketball-Nationalspieler, dann TV-Journalist, bevor er aus Afghanistan fliehen musste. Heute arbeitet er als Integrationsmittler in Bremen.
taz: Herr Orya, wie sieht Ihr Arbeitsalltag als Sprach- und Integrationsmittler aus?
Mohammad Naim Orya: Wir treffen uns jeden Tag früh im Büro und schauen: Wer braucht Hilfe? Welche Sprache muss übersetzt werden? Oft geht es zur Ausländerbehörde, zum Rechtsanwalt oder zum Arzt.
Sie sind in Deutschland angekommen?
Mittlerweile schon. Der Job bereitet mir viel Freude, ich habe meine Familie um mich – und bin mittlerweile auch deutscher Staatsbürger.
55, in Kabul geboren, ist ehemaliger Basketball-Nationalspieler und Fernseh-Journalist. Derzeit arbeitet er als Sprach- und Integrationsmittler in Bremen.
Hätten Sie jemanden wie Sie gebrauchen können, als Sie hierher kamen?
Ich kenne die Situation gut, nicht alle deutschen Wörter zu verstehen. Ich erinnere mich noch an ein Erlebnis im Supermarkt. Dort wollte ich ein Hähnchen kaufen, kannte das Wort jedoch nicht. Ich wusste aber, was die Begriffe „Eier“ und „Mutter“ bedeuten. Zwar schaute die Verkäuferin groß, aber sie hatte mich verstanden und konnte mir die „Eiermutter“ in der Tiefkühlung zeigen.
Wann war das?
Das war vor über 30 Jahren.
Sie mussten sich also ohne Deutsch durchschlagen?
Nein, nicht ganz. Dauerhafte Hilfe brauchte ich nicht. Im Jahr 1979 bin ich mit einem Stipendium nach Leipzig gegangen, um Journalistik zu studieren. Ich wusste also, worauf ich mich einlasse, hatte mich mit der deutschen Sprache befasst. Durch den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und die Unterstützung der Regierung gab es Stipendien für sozialistische Staaten.
Und da konnte man das Fernsehmachen lernen?
Zumindest bin ich 1985 nach Afghanistan zurückgekehrt und habe als Fernsehjournalist beim damals einzigen Sender gearbeitet. Als Abteilungsleiter war ich dort für 15 Mitarbeiter verantwortlich.
War die Presse dort freier als in der DDR?
Nein, die Pressefreiheit war stark eingeschränkt. Einmal wurde ich zu einer Pressekonferenz mit dem afghanischen Astronauten Momand eingeladen, der von einer sowjetischen Weltraummission zurückgekommen ist. Ich nahm Platz – und sah auf dem Tisch vor mir einen Zettel mit fertig formulierten Fragen. Ich wollte natürlich selber Fragen stellen.
Und das haben Sie dann auch getan?
Letztlich habe ich keine einzige Frage mehr gestellt. Ich hatte das Glück, dass meine Programme weniger politisch waren. Wir haben überwiegend gesellschaftliche Themen behandelt – Kinder, Religion, aber auch Sport.
Das liegt nahe für Sie als ehemaliger Basketball-Nationalspieler. Wie kamen Sie dazu?
Unter dem damaligen Präsidenten Daoud Khan wurde der Sport in Afghanistan massiv ausgebaut. Überall sind Nationalmannschaften entstanden. Bei uns fand dann eines Tages ein Sichtungsturnier statt. Erst wollte ich nicht hingehen: Es haben viele Stars mitgespielt – und ich war noch ein kleiner Junge. Viele Körbe habe ich dann auch nicht geworfen – drei, vier vielleicht. Anscheinend war die Jury von meinem Passspiel und meinem Rebounds überzeugt…
… und Sie wurden ins Team berufen?
Jeden Donnerstag lief der Sportrundfunk im Radio. Dort wurde bekanntgegeben, wer für die Nationalmannschaft spielen darf. Als ich meinen Namen hörte, konnte ich es kaum glauben. Ich, der kleine Junge, und die ganzen anderen Stars! Ich war damals vielleicht erst in der 10. Klasse.
Der Einstieg war schwer?
Als ich zum ersten Training ging, stand vor der Halle ein sehr bekannter Spieler, der es nicht ins Nationalteam geschafft hatte und lachte mich aus. Ich habe mich klein gefühlt. Das erste Turnier machte mich aber schnell groß. Von da an begann meine Karriere. Wenn ich so recht überlege, bin ich der älteste und über den längsten Zeitraum spielende Basketballer Afghanistans gewesen.
Ende der 1980er zog sich die Sowjetunion aus Afghanistan zurück. Wie haben Sie den Umbruch erlebt?
Die Situation war durcheinander. Die Mudschaheddin wurden von Saudi-Arabien und den USA unterstützt. Sie kamen nach Afghanistan und haben alles besetzt. Es herrschte Krieg – und der Rest der Welt hat zugeschaut. Menschen wurden auf offener Straße erschossen. Meinen Kindern habe ich die Augen zugehalten.
Das konnte vermutlich keine dauerhafte Lösung sein.
Natürlich nicht. Wir mussten uns verstecken. Alle kannten schließlich mein Gesicht aus dem Fernsehen. Irgendwann habe ich gemerkt, dass es nicht mehr geht und bin mit meiner Frau und meinen beiden Kindern – ohne es jemandem zu sagen – nach Pakistan geflüchtet.
In Pakistan sind Sie aber nicht lange geblieben.
Mit einem weiteren Stipendium in der Hand ging ich 1997 nach Bremen – erst einmal ohne meine Familie. Das ging nicht lange gut. Sie wurden massiv bedroht.
Bedroht?
Irgendwie kam heraus, dass ich in Deutschland studiere. Vermutlich ging es um Geld. Also holte ich sie her. Um sie zu ernähren, habe ich neben meinem Studium in einem Restaurant gearbeitet. Da war ich oft bis 2 Uhr nachts. Es war eine schwierige Zeit.
Dennoch sind Sie geblieben.
Da die Situation in meiner Heimatregion zu unsicher war, beantragte ich in Bremen Asyl. Ich dachte mir, Journalisten sind die ersten, die als politisch Verfolgte gelten. In Afghanistan war mein Gesicht vielen bekannt. Wichtige Interviews mit Ministern und Regierungsmitgliedern hatte ich geführt. Doch mein Asylantrag wurde abgelehnt.
Warum?
Die Argumentation war: Weil es in Afghanistan keine Regierung gibt, kann es auch keine politische Verfolgung geben. Ich nahm mir daraufhin einen Rechtsanwalt und erreichte mit ihm zunächst eine befristete Aufenthaltsgenehmigung.
Also mit Ablaufdatum.
Vorerst schon. Doch dann kam der 11. September 2001 – und nach ihm der Kampf gegen die Taliban. Ich bekam zu dieser Zeit einen Brief vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Sie wollten dort mit mir sprechen.
Um Ihnen was zu sagen?
Dass ich in Deutschland bleiben darf – und das sogar unbefristet. Vorher hat der Westen das Problem in Afghanistan anscheinend gar nicht zur Kenntnis genommen. Es brauchte einen Anlass wie 9/11. Bis man in Deutschland aber ganz ankommt, dauert es schon zehn Jahre. Das ist schlimm. Man weiß erst nicht, was mit einem passiert. Dann der ganze bürokratische Aufwand, das lange Warten auf die Arbeitserlaubnis. Später durfte ich dann eine Mitarbeiterzeitung für die „Werkstatt Bremen“ machen, einer Behinderteneinrichtung. Und den Basketball habe ich nie losgelassen. Ich lernte den damaligen Leiter der Basketballabteilung vom VfB Komet in Arsten kennen. Er bot mir an, die Jugendmannschaften und Herrenmannschaften zu trainieren. Und das habe ich dann auch über zehn Jahre lang gemacht.
Aber jetzt nicht mehr. Haben Sie die Lust am Basketball verloren?
Nein, das nicht. Ich habe mir den Fuß gebrochen. Deshalb habe ich den Posten abgegeben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW