Integrationsdebatte in Frankreich: In Polemik erstickt
Die Rechtspopulisten warnen vor dem Verkauf der „Seele Frankreichs“. Das wahre Reizthema in der Diskussion um Integration aber ist der Schleier.
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PARIS taz | Nein, die französische Regierung hat nicht die Absicht, das gesetzlich verbotene Tragen von Schleiern oder anderen Symbolen religiöser Zugehörigkeit in den Schulen wieder zu erlauben. Es braucht gleich mehrere Dementis von Ministern, von Regierungschef Jean-Marc Ayrault und von Staatspräsident François Hollande, um den von rechts angefachten Sturm der Empörung einigermaßen zu besänftigen.
Denn der Parteichef der konservativen UMP, Jean-François Copé, sah bereits „die Republik in Gefahr“. Er trat mit todernster Miene vor die Medien und warnte, Frankreich dürfe „nicht seine Grundwerte, Sprache, Geschichte, ja seine ganze Identität aufgeben“. Das war eigentlich nie die Absicht der regierenden Linken gewesen, aber in Frankreich ist der Rechten seit je jeder Vorwand für eine Polemik auf dem Buckel der Ausländer gut genug.
Sie beweist vor allem, wie brisant das Thema Integration und Diskriminierung ist und wie aus Angst vor einem weiteren Erstarken der fremdenfeindlichen Rechtsextremisten eine unvoreingenommene Debatte darüber schlicht unmöglich gemacht wird.
Der Anlass des Streits war in diesem Fall ein Expertenbericht zur Integrationspolitik, den der Premierminister Anfang November erhalten hatte. Die Vorschläge, die darin gemacht werden, waren eigentlich nur für den internen Gebrauch. Doch aus Versehen oder aus politischer Absicht ist der Text auf der Internetseite der Regierung publiziert worden. Das schien zunächst niemanden zu interessieren – bis die Redaktion von Le Figaro darin ein paar spezifische Tretminen fand.
Arabisch-Unterricht an Schulen
Die Zeitung sprach von einem „Schockbericht“, weil da unter anderem stand, Frankreich müsse einem „arabisch-orientalischen Erbe“ Rechnung tragen, wenn sich die Bürger aus dem arabisch-muslimischen Kulturraum nicht in Frankreich ausgeschlossen fühlen sollten. Schockiert hat Le Figaro, dass deswegen ein Arabisch-Sprachunterricht in Schulen eingeführt und auf Gymnasiumsstufe als Option eine afrikanische Sprache angeboten werden könnte. Das wahre Reizthema aber ist der Schleier.
In der Expertenrunde war die Frage aufgetaucht, inwiefern das Verbot des Schleiers oder des Kopftuchs in Schulen die Integration fördert oder behindert. Das reichte, um die Regierung der Kapitulation und des Verzichts auf die weltlichen Grundwerte zu bezichtigen.
Die oppositionelle UMP, die ganz zufälligerweise gerade über ihre Ausländerpolitik diskutierte, griff denn auch die zum Teil aus dem Zusammenhang gerissenen Ideen als Munition für einen frontalen Angriff auf die Regierung auf. Diese werfe bei der angeblichen Revision der Integrationspolitik alles über Bord, was der Republik bisher heilig war, und wolle sich so auf billige Weise vor Wahlen einschmeicheln, warnte Copé.
Der UMP-Chef steht dabei selbst unter Druck von ganz rechts. Auch an der Basis der UMP teilen immer mehr Sympathisanten die vom Front National angeheizten Ressentiments gegen die Mitbürger ausländischer Herkunft generell und gegen die Muslime im Speziellen.
Kollektive Unfähigkeit
Wie problematisch auch im Regierungslager nur schon eine Zwischenbilanz des Kopftuchverbots oder erst recht die Debatte über die mangelnde Akzeptanz der zugewanderten Bürger oft auch nach zwei Generationen noch ist, bestätigten Innenminister Manuel Valls und Außenminister Laurent Fabius, die sich sogleich öffentlich vom Bericht distanzierten. Sie brachten damit den Premierminister Ayrault erst recht in Verlegenheit.
Zweifellos wird der Bericht nun tief in einer Schublade verschwinden. Der Sprecher der Expertengruppe, der Jurist Thierry Tuot, kann das nur bedauern: „Die Polemik ist sehr beunruhigend, weil sie eine kollektive Unfähigkeit zur Durchführung einer offenen Debatte über das Thema Integration zum Ausdruck bringt.“
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