piwik no script img

IntegrationAngekommen in der Ferne

Antonio Riccò hat sich lange um die Integration junger Italiener in Hannover und Wolfsburg gekümmert. Bis er eines Tages einem Flüchtling begegnete und darüber eine Geschichte schrieb, die nun als Theaterstück aufgeführt wird. Die Hauptrolle spielt ein junger Afghane, der für seine Flucht nach Deutschland vier Jahre brauchte.

Der Autor und sein Schauspieler: Antonio Riccò und Elijah, beide mit Migrationshintergrund (nicht im Bild). Bild: Christian Wyrwa

Eines Morgens im September 2005 nahm Antonio Riccòs Leben mal wieder eine neue Wendung. Riccò arbeitete damals als Leiter einer Schule in Meran, gelegen im gesegneten, vom Obstanbau und Edel-Tourismus geprägten Südtirol. An jenem Morgen nun traten zwei Erzieher eines SOS-Kinderdorfs aus der Umgebung bei ihm ins Büro. Wenig später stellten sie ihm einen afghanischen Jungen mit Namen Alidad vor, dessen Geschichte, eine moderne Odyssee, Riccò erst für frei erfunden hielt: Der Junge wollte allein von Afghanistan, über die Türkei ins griechische Patras, mit einem Schiff nach Ancona, und von dort, auf der Achse eines Lastwagens, bis nach Meran gekommen sein.

2005 drückte Elijah, auch ein Flüchtling aus Afghanistan, noch in Hannover die Schulbank und schluckte den täglichen Ärger der Diskriminierung herunter. "Ich musste immer doppelt so gut sein wie mein blonder Sitznachbar, um die gleichen Noten zu bekommen wie er", erinnert er sich. Und dass er von seinen Lehrern trotzdem noch zu hören bekam: "Junge, mach doch mal KFZ-Lehre." Aber ach, wie herrlich harmlos war das doch im Vergleich zu dem, was er etwa zuvor, auf seiner vierjährigen Flucht zu Fuß von Afghanistan über Moskau nach Deutschland, durchgemacht hatte; im Vergleich auch zu dem, was er während seines ersten Jahres in Deutschland in einem Auffanglager bei Leipzig erleben musste: die Angst vor marodierenden Neonazis, die sich einen Spaß daraus machten, ins Lager einzudringen, und alles kurz und klein zu schlagen.

Heute studiert Elijah in Hamburg Psychologie - wenn er nicht gerade auf der Bühne steht, wie jetzt im Freizeitheim Mühlenberg, das an eine integrierte Gesamtschule eines sozialen Brennpunkts in Hannover angegliedert ist. Vor den Schülern der 10. und 11. Klasse spielt er dort die Hauptrolle in "Tariqs Auftrag". Geschrieben hat das Stück Antonio Riccò, und es verläuft ganz ähnlich, wie es Alidad ihm in Meran erzählt hatte - mit dem Unterschied, dass die Geschichte in "Tariqs Auftrag" nicht gut ausgeht. Denn während Alidad heil ankam, von der Schule unterstützt wurde, dort demnächst sein Abitur macht, ist Tariq am Ende der Geschichte tot. Es ist auch nicht Alidads Geschichte, die Riccò erzählt. Es ist die Geschichte eines Flüchtlings, von dem Riccò drei Jahre später, 2008, in einer italienischen Zeitung las, die Geschichte eines jungen Afghanen, der sich mit Seilen unter das Fahrgestell eines Lasters gebunden hatte, vermutlich durch die Abgase ohnmächtig geworden oder mit dem Kopf aufs Pflaster aufgeschlagen war und auf der Straße zu Tode geschleift wurde.

Der heute 56-jährige Riccò sagt, dass ihn die Begegnung mit Alidad verändert habe: "Ich bin nicht mehr der Gleiche." Als Schulleiter hat er sich früh pensionieren lassen, er lebt jetzt in Hannover als freier Schriftsteller. Er sagt aber auch, dass die Thematik der Flucht und der Fremde ihn schon immer begleitet hätte.

Als junger Mann kam er Anfang der 1960er Jahre nach Hannover, sein Auftrag: als Lehrer die Integration der italienischen Gastarbeiterkinder in Deutschland zu unterstützen. Ein schwieriges Unterfangen. Weder empfing man die Italiener in Deutschland mit offenen Armen - "Es gab Restaurants, in denen Italienern der Zutritt verwehrt war" -, noch dachten die daran, dauerhaft zu bleiben. Riccò blieb, heiratete eine Einheimische, bekam Kinder, und gründete, weil nun mal Integration eine beidseitige Angelegenheit ist, in Wolfsburg eine bilinguale, deutsch-italienische Grundschule.

"Überall und zu allen Zeiten gab es Migration", sagt Riccò. Als er in Mailand zur Schule ging, stammte der Großteil seiner Mitschüler aus Süditalien; seine Eltern hatten lange in Zürich gelebt; sein Urgroßvater war nach Amerika ausgewandert, und dort, wie später sein Großvater herausfand, für eine Handvoll Dollar ermordet worden.

Erinnerten wir uns an die Flüchtlingsschicksale, die es in so gut wie jeder Familie gebe, glaubt Riccò, dann gingen wir auch anders mit den Flüchtlingen um. Das ist auch Elijahs Hoffnung. Darum hatte er gleich Interesse bekundet, als er über einen Freund hörte, in Hannover suche man einen afghanischen Schauspieler für ein Flüchtlingsstück. Inszeniert worden ist es als düsteres, atmosphärisch sehr dichtes Kammerspiel vom "boat people projekt", einer Arbeitsgruppe, die sich auf Migrationsthemen spezialisiert hat. Neben Elijah spielt die Schauspielerin Franziska Aeschlimann, die dem Stück den erzählerischen Rahmen gibt - unter anderem als jene Moped-Fahrerin aus der italienischen Zeitungsnotiz, der die Blutspur auffällt, die der Lastwagen mit dem darunter angebunden Jungen hinter sich her zieht.

Elijah ist kein Schauspieler, er spielt zum ersten Mal Theater. Er muss auch nicht wissen, wie das geht. Er muss nur die Wirklichkeit wiederfinden, die er als Erinnerung in sich trägt. Und wie lebendig die noch ist: Mit dem Antlitz des Verfolgten und Geprügelten huscht er bei der Aufführung im Freizeitheim Mühlenberg über die karg gestaltete Bühne, fahrig, hastig, verschlossen, in jeder seiner Gesten zittert die Angst. Später, im Gespräch, sagt er: "Mir wird noch immer übel, wenn ich Bilder zusammengepferchter Flüchtlinge sehe."

Umso erstaunlicher, wie gelöst Elijah nach dem beklemmenden Stück auf der Bühne sitzt. Fast im Plauderton erzählt er den Schülern von Dingen, die einem die Sprache verschlagen: In Afghanistan habe man seiner Familie alles genommen, seinem Onkel das Leben; in Pakistan hätten sie ein Jahr warten müssen, um mit den Schleusern endlich weiterzukommen, die sie gleichwohl wie Dreck behandelten; in Moskau habe sich die Familie trennen müssen, er sei, vierzehnjährig, allein zurückgeblieben in der Stadt und habe dort ein Dreivierteljahr in den Heizungskellern der Mietshäuser dank Unterstützung alter Babuschkas überlebt. "Das war wirklich nicht schön", sagt er. Und dass er damals die ganze Zeit nur geheult habe.

Geholfen, mit diesen Erlebnissen fertig zu werden, sagt Elijah, habe ihm die Musik. Er rappt und tritt unter dem Namen Elijah Escobar auf: "Das ist mein Ventil." Die Bitte einer Schülerin, ob er etwas vorsingen könne, weist er charmant zurück: "Ich kann nicht singen. Wenn ich singen könnte, würde ich nicht rappen." Geholfen, in der deutschen Gesellschaft zurecht zu kommen, habe ihm aber die Bildung. Sie sei "das einzige Seil, an dem du dich aus dem Loch des Elends herausziehen kannst".

Nach der Aufführung sitzt Elijah mit Riccò in der Schulkantine. Riccò kommt noch einmal auf "Tariqs Auftrag" zurück, die Geschichte ist ein Teil seines ersten Romans "Biscotti al cardamomo", der von zwei Flüchtlingen in Italien handelt. Der Anlass des Buches sei die Begegnung mit Alidad gewesen, verursacht aber sei es durch die Zustände in Italien. "Hier muss ich ein paar Stichworte geben", sagt Riccò und zählt auf: "Berlusconi, 17-jährige Mädchen, Ausländerhass, Lega Nord". Wie sehr ihn die politischen Zustände des Landes noch umtreiben, davon zeugt sein Berlusconi-kritischer Blog www.aussorgeumitalien.de.

Nicht weniger wichtig ist es Riccò aber, die Dinge von ihrer sonnigsten Seite zu sehen. Nach seiner Mailänder Grundschulzeit hat er zehn Jahre in Riva, am Nordzipfel des Gardasees gelebt. "Wenn ich immer an die Berge denken würde, die dort steil ins schimmernde Wasser stürzen, wäre ich unglücklich, ich muss sehen, was ich vor Ort bekommen kann." Heute findet Riccò den Maschsee schön. Und er freut sich, dass die Schulkantine ihm einen Nudelauflauf mit Gemüse und Mozzarella auftischt. Das habe es damals, als er nach Deutschland kam, nicht gegeben: "Kein Mozzarella, keine Zucchini, kein Parmesan." Wie Riccò das sagt, legt Elijah ihm verständnisvoll seinen Arm um die Schultern und lacht: "Ach Antonio, du bist durch die Hölle gegangen."

Nächste Aufführung: 24. November, 11 Uhr, Freizeitheim Linden, Hannover. Der Roman "Biscotti al caramomo" und die daraus entnommene Erzählung "Tariqs Auftrag" sind im Südtiroler Verlag alpha beta erschienen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!