Integration in Sachsen: Verloren im Behördendschungel
In Grimma springen Freiwillige ein, um die Defizite der Behörden auszugleichen. Ohne sie wäre die Zuwanderung nicht zu bewältigen.
Rund 650 Geflüchtete sind in Grimma untergebracht. Sie leben in einer Stadt, in der kaum jemand ihre Sprachen spricht, erhalten Schreiben von den Ämtern, die sie nicht verstehen. Flüchtlingskinder zum Beispiel brauchen eine Gesundheitsbescheinigung vom Arzt, um in den Kindergarten gehen zu können. Die müssen die Eltern aber zunächst beim Ausländeramt beantragen; sich dafür einen halben Tag anstellen vorm Büro.
Vom Hausarzt werden sie dann weiter zum Facharzt geschickt, der dann oft die ausländischen Impfbescheinigungen nicht anerkennt – wie sollen sich Menschen, die gerade erst in Deutschland angekommen sind, in diesem Wirrwarr der Zuständigkeiten zurechtfinden?
Ohne freiwillige Helfer wie Bärbel Schäfer wären viele von ihnen aufgeschmissen. 20 Freiwillige gibt es in Grimma, knapp 30.000 Einwohner, Mittelsachsen. Sie sind der Grund, warum Zuwanderung in diesem Maß vor Ort in den Kommunen überhaupt zu bewältigen ist. Das Landratsamt selbst sieht sich nicht in der Lage, Schreiben zu übersetzen, Flüchtlinge ins soziale Leben zu integrieren oder Asylentscheide zu erklären.
„Ich bin kein Gutmensch“
Bärbel Schäfer wohnt mit ihrem Mann in einem hellen, modern eingerichteten Haus nahe dem Grimmaer Marktplatz. Das Ehepaar aus Bayern ist vor 20 Jahren nach Grimma gezogen. Schäfer, eine Frau von großer Statur, 69 Jahre alt, ist eigentlich in Rente. Aber als Flüchtlingshelferin ist sie dieser Tage ständig im Einsatz; manchmal beginnt ihr Arbeitstag um neun Uhr morgens und geht bis acht Uhr abends.
Die 40 Euro im Monat, die ihr dafür zustünden, nimmt sie nicht an. Sie will unabhängig sein. „Ich bin kein Gutmensch“, sagt sie. „Ich kann einschätzen, wer Hilfe braucht und wer mich ausnutzt.“ Sie hilft gerne, aber das ist nicht der wichtigste Grund für ihr Engagement, Schäfer tut, was sie für notwendig hält: „Die Leute müssen integriert werden“, sagt sie, „sonst geht das schief.“
Die Freiwilligen organisieren Sprachunterricht, vermitteln Plätze in Vereinen, Kindergärten und Schulen, Arzttermine, besorgen Möbel und Kleidung. Vor allem aber sind sie unbezahlte Dolmetscher und Mittler zwischen Flüchtlingen und Ämtern. „Die größten Hürden sind die Behörden mit ihren Vorschriften und Gesetzen“, meint Schäfer.
„Organisatorisches Chaos“
Das Landratsamt Kreis Leipzig fühlt sich für die umständlichen Abläufe aber nicht verantwortlich. Dass die Behörde die Flüchtlinge nicht besser unterstützen kann, habe mit dem „organisatorischen Chaos von Bund und Land zu tun“, sagt Dr. Thomas Vogt, Sozialdezernent vom Landratsamt Kreis Leipzig. Er ist sich der Anspannung zwischen dem Amt und Flüchtlingshelfern bewusst.
„Von gut laufen kann man nicht sprechen“, meint Vogt im Hinblick auf die Zusammenarbeit. Jahrelang habe man versäumt, qualifizierte Sozialarbeiter einzustellen. Aus dem Stand heraus müsse nun die Zahl der Mitarbeiter verdoppelt werden. Das könne das Landratsamt nicht stemmen.
Flüchtling aus Syrien
Was das Amt versäumt, müssen nun die Freiwilligen leisten. Schäfer ärgert sich. „Es ist scheinheilig vom Landratsamt, zu behaupten, sie wollen Integrationsarbeit leisten. Ich glaube, die wissen gar nicht, was da dranhängt!“ Sie hat sich an den Computer in ihrem Arbeitszimmer gesetzt, sie tippt mit steifen Fingern. Neben ihr sitzt die junge Migrantin, den Kopf auf der Handfläche abgestützt. Sie braucht einen Pass für ihre Tochter.
Papiere, Papiere, noch mehr Papiere
Wie oft sie deswegen schon beim Ausländeramt gewesen ist? Die Frau lacht hysterisch. Immer wenn sie denkt, nun müsse sie alles beisammen haben, fordern die Sachbearbeiter noch mehr Papiere. Nun hat sie ihren eigenen Pass abgeben müssen. Warum, hat sie nicht verstanden. Vielleicht als Druckmittel, überlegt sie. Die junge Frau hat ihr Vertrauen in das Ausländeramt längst verloren. „Die hören mir eh nicht zu.“, sagt sie. „Ich bin müde im Kopf.“
Als die junge Frau gegangen ist, macht sich Schäfer auf den Weg. Der Kies knirscht unter ihren Turnschuhen, als sie über die Einfahrt hinüber zum ihrem VW geht. Ruckartig fährt sie an. Am Fenster ziehen bunte Häuser im Barockbaustil vorbei. Durch gepflasterte Gassen fährt sie zu einem Betonhaus an der Hauptstraße. Hier wohnt Familie Jawed aus Afghanistan. Das Ehepaar ist mit den vier Kindern erst vor wenigen Wochen aus dem Flüchtlingsheim hergezogen. Die Flüchtlinge haben Angst, erkannt zu werden. In ihrer Heimat wurden sie von Taliban bedroht. Daher sind ihre Namen geändert.
Schäfer bringt die drei Söhne zum Fußballtraining. Auf dem Weg zum Auto erzählen die Jungen von der Schule: „Super!“ Schäfer lächelt. So viel Begeisterung für die Schule hat sie selten erlebt. Die Jungen werfen ihre Sportbeutel in den Kofferraum und klettern auf die Rückbank. Stumm schauen sie aus dem Fenster. Sie sind nervös, heute ist ihre erste Trainingsstunde. Bei der dritten roten Ampel seufzt Schäfer; ihre Zeit ist knapp. „Ich muss den Jungs dringend Fahrräder besorgen.“
„Zack, zack!“ in die Kabine
Die Kinder liegen ihr besonders am Herzen, sagt sie. „Die Erwachsenen kommen irgendwie klar, aber um die Kinder muss man sich gut kümmern, sonst gehen sie hier unter.“ Sie biegt in eine schmale Einfahrt ab. Bärbel Schäfer hat dafür gesorgt, dass die Jungen im Fußballteam aufgenommen werden. Sie dankt dem Trainer noch kurz, der schickt die Kinder „zack, zack!“ in die Kabine. Dann ist sie schon wieder unterwegs. Sie will in der Zwischenzeit die Eltern der Jungen zu besuchen.
Amar Jawed sitzt mit seiner Frau und seiner Tochter auf der zerknautschten Couch im Wohnzimmer. Auf den Schränken ringsum hocken Stoffpuppen und Figuren mit Gesichtern aus Porzellan. Ihre Wangen sind rosig, die Haut weiß. Jawed hat kantige Züge und schwarzes Haar. Er holt ein Schreiben vom Ausländeramt hervor. Er möchte sein Knie behandeln lassen, er hat Schmerzen. Das Amt aber findet, sein Fall sei nicht dringlich.
Die Operation soll er selbst bezahlen. Aber wie soll das gehen, ohne Geld? Eine Krankenversicherung wird die Familie erst erhalten, wenn ihre Asylbewilligung durch ist. „Es ist schwer zu erklären, warum das so lange dauert“, meint Schäfer. Sie versucht, den Flüchtlingen die Bescheide der Behörden verständlich zu machen. In vielen Fällen aber kann sie die Gründe selbst nicht nachvollziehen.
Der Bürgermeister ist erregt
Grimmas Bürgermeister Matthias Berger sitzt am Ende des langen Holztisches in seinem Büro. Er trägt sportliche Kleidung und spricht sehr schnell. Berger regt sich auf. „Wenn ich als Staat auf die Freiwilligen zurückgreife, dann heißt das: Ich bewältige es nicht allein. Die Freiwilligen können ergänzend helfen, aber die können nicht ein fester Baustein sein in diesem System. Da kann ich mir nur an den Kopf greifen.“
Schäfer fährt nach Hause. Zeit sich auszuruhen hat sie aber nicht. Sie muss für eine kranke Kollegin einspringen, die im Mehrgenerationenhaus Deutsch unterrichtet. An einem Tisch am Fenster sitzen drei Mädchen, 10, 12 Jahre alt. Mit Bilderkarten übt Schäfer mit ihnen Vokabeln. Auf einer Karte ist ein Vogel mit einem rotem Hals zu sehen. „Rotkehlchen“, sagt sie sehr deutlich.
Am Abend kommen im Mehrgenerationenhaus Freiwillige und Flüchtlinge zusammen. Etwa siebzig Menschen sitzen an langen Tischen. Eine irakische Familie spielt Karten, alte Männer trinken Çhai. Schäfer steht neben einem Kurden aus Syrien. „Egal wen man hier fragt: ‚Hast du ein Problem mit dem Ausländeramt?‘, wird der sagen: Ja“, sagt der Flüchtling.
Es fehlt vor allem an Zuwendung
Eine andere Freiwillige sagt, sie habe einem Migranten neulich sogar mitteilen müssen, dass sein Antrag auf Asyl abgelehnt wurde. Auch bei Regina Babanz, ebenfalls Flüchtlingshelferin, hat sich viel Frust angestaut: „Es fehlt an allem“, sagt sie, „es fehlt an Wohnungen, es fehlt an Unterstützung vom Ausländeramt, es fehlt an Bereitschaft von den Einheimischen, Kontakt zu den Flüchtlingen herstellen zu wollen.“
Babanz stammt aus Norddeutschland und lebt noch nicht lange in Grimma; sie ist erschüttert über die Situation vor Ort. Den Unterschied zwischen West und Ost sehe sie deutlich. „Es fühlt sich keiner berufen, es fühlt sich keiner berührt.“ Niemand traue sich zu sagen, wie es laufe. Dabei sei das dringend nötig. „Irgendwann ist man müde, immer wieder an denselben Punkten zu stehen“, sagt sie.
Der kurdische Syrer neben ihr kann viel davon erzählen, wie sich die Defizite der Verwaltung für die Flüchtlinge selbst anfühlen: Wann immer er zum Ausländeramt ging, standen Hunderte Menschen dort an; oft dauerte es Stunden, bis er aufgerufen wurde. Der Syrer, der ebenfalls anonym bleiben will, versuchte es trotzdem wieder und wieder.
Er ist ein hartnäckiger Typ, der wissen wollte, wie es nun aussieht mit seinem Asylantrag. Er wollte sich nicht abwimmeln lassen. Irgendwann habe ihn die Leiterin der Ausländerbehörde angeschrien: „Raus! Komm nicht jede Woche wieder!“ Jetzt geht er gar nicht mehr zum Amt. Er sagt: „Ich will nicht noch mal rausgeschmissen werden.“
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