: Insel der geflüchteten Jugend
Auf den Kanarischen Inseln stranden minderjährige Geflüchtete aus Westafrika. Die Inselregierung ist überfordert. Wie ein Projekt von Studierenden darum kämpft, die Menschen nicht aufzugeben

Aus Las Palmas Dario Antonelli und Giacomo Sini (Text und Fotos)
Wie sprichst du das aus?“, fragt Sukaina Makran Ali, während sie sich der Klasse zuwendet. Sie zeigt auf die Ziffer 15 auf der Tafel. „Quinze!“, antwortet die Klasse im Chor auf Spanisch. Wir befinden uns in der öffentlichen Bibliothek auf der Insel Gran Canaria, im Zentrum von Las Palmas. Makran Ali, 21 Jahre alt, Jurastudentin an der Universidad de Las Palmas de Gran Canaria, gibt einer Gruppe von 16- und 17-Jährigen Spanischunterricht.
Sie alle sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, alleine über den Seeweg aus Mauretanien, Senegal oder Marokko gekommen. Diese Migrationsroute gilt als eine der gefährlichsten weltweit. Zugleich ist sie, seit 2021, eine der Hauptwege nach Europa. Die Kanarischen Inseln gelten als ein Paradies für Touristen und für Europäer, die von den geringen Steuern dort profitieren wollen. Zugleich ist der Atlantik ein riesiges Grab. Allein 2024 erreichten laut spanischem Innenministerium 46.843 Menschen die Inselgruppe per Boot. 9.757 Flüchtlinge starben laut der Hilfsorganisation Caminando Fronteras bei dem Versuch – das ist etwa jeder Fünfte.
Heute haben sich 30 Schüler in der Klasse versammelt, alles Jungs. „Manchmal kommen sogar mehr“, sagt Daniel Azcárate Santafe, 23 Jahre alt. Er studiert Kastilianische Literatur und Sprache auf Lehramt an der Universidad de Las Palmas. Neben ihm und Sukaina Makran Ali sind auch noch zwei weitere Jurastudentinnen gekommen, Hana Min Nahna Bahiya und Ettakia M. El Majidi, beide Anfang 20. Die Initiative für den Sprachkurs ging von der Uni aus: Mehrere Fakultäten hatten sich dort zusammengeschlossen, um Projekte voranzutreiben, die einen Unterschied machen sollen. Darunter eben auch der Sprachkurs für die jungen Geflüchteten. „Wir arbeiten alle ehrenamtlich“, sagt Santafe, der seine Masterarbeit über das Projekt schreiben will. „Jeder arbeitet so, wie er kann, das Team wechselt ständig. Aber wir bieten jeden Tag von Montag bis Freitag drei Stunden Unterricht an.“
Sprache ist der Schlüssel, um einen Alltag bestreiten zu können, um Beziehungen aufzubauen, um Zugang zum Arbeitsmarkt zu bekommen. Das Spanisch-Projekt der Uni hat vor allem ein Ziel für die jungen Geflüchteten: Selbständigkeit. Viele der Teenager leben außerhalb von Las Palmas, für manche bedeuten die Spanisch-Klassen morgens eine zweistündige Fahrt mit dem Bus. Sie leben in staatlichen Unterkünften der Kanarischen Inselregierung. Viele dieser Zentren befinden sich in kleinen Dörfern und am Rande von Siedlungsgebieten: Sport- und Kulturangebote, Geschäfte, Schulen in der Nähe sind hier Mangelware. „Ich lebe in einem Dorf, wo ich absolut nichts zu tun habe“, sagt einer der Jugendlichen. Die Sprachkurse, sagen viele der Schüler, sind auch eine Gelegenheit, um nach Las Palmas zu kommen und Freunde zu treffen.
„Wer kann diese Zahl buchstabieren?“, fragt Makran Ali vorne an der Tafel. Stille in der Klasse, alle weichen ihrem Blick aus. „Na los, du schaffst das!“, sagt die Lehrerin zu einem Jungen, der an der Seite sitzt. „Nein, ich weiß nicht, wie“, sagt er leise, und schaut peinlich berührt hoch zu Makran Ali, das Sweatshirt über den Kopf gezogen. Seine Freunde um ihn herum lachen, necken ihn. „Na los“, ermuntert Sukaina ihn. „Ich zeige dir, wie man es macht, und dann zeigst du es später den anderen!“
Der Obelisk auf der Plaza de la Constitución sticht heraus zwischen dem grünen Blätterdach der Bäume. Nur ein paar Schritte sind es von hier bis zum Hof der Fakultät für Übersetzungswissenschaften an der Universidad des Las Palmas. Santafe sitzt an einem der Tische draußen vor dem Uni-Café. Neben ihm sitzen Susan Cranfield Mackay, Professorin für Englische Philologie, und Maria Goretti García Morales, ebenfalls Dozentin im Fachbereich für Moderne Sprachen und eine der Projektverantwortlichen.
„Wir haben im September vergangenen Jahres angefangen, mit minderjährigen Geflüchteten zu arbeiten“, sagt García Morales. Unter den Fakultäten, die sich schon zuvor vernetzt hatten, waren auch die Jura-Fakultät und die ingenieurswissenschaftlichen Studiengänge. Deshalb könne man den Geflüchteten auch andere Fächer anbieten, zusätzlich zum Sprachunterricht, sagt Goretti: „Wir orientieren uns an den Bedürfnissen der Geflüchteten. Der Fokus liegt auf dem Spracherwerb, aber es gibt zum Beispiel auch Matheunterricht, wo andere Minderjährige teilnehmen, die in staatlicher Unterbringung sind.“ Das kanarische Jugendhilfesystem trennt nicht zwischen einheimischen und ausländischen Minderjährigen.
Mackay betont die Wichtigkeit des Projekts: „In Spanien besteht Schulpflicht bis 16, das bedeutet, dass viele junge Menschen, die hierher kommen, gar nicht mehr in den Schulen ankommen.“ Tatsächlich sind die Schulen nicht verpflichtet, ältere Jugendlichen aufzunehmen. Laut Daten, die die kanarische Zeitung La Provincia veröffentlicht hat, waren zum Ende des Schuljahres 2023/2024 nur etwa 40 Prozent der minderjährigen Geflüchteten ins Schulsystem integriert. Nur ein Viertel dieser Gruppe ist wiederum älter als 16 Jahre.
„Es ist sehr schwer für die Jugendlichen, einen Schulabschluss zu machen oder sich überhaupt nur einfachste Fertigkeiten anzueignen“, sagt Cranfield Mackay. „Wir bekommen keine Fördergelder, zumindest im Moment noch nicht“, erklärt Goretti. „Aber wir werden auf andere Art unterstützt. Zum Beispiel erlaubt uns die Inselregierung, in den Räumlichkeiten der Bibliothek zu unterrichten. Und die Universität versorgt uns mit Lehr- und Schreibmaterialien.“ Cranfield Mackay sagt, manche der Lehrkräfte hätten selbst eine Migrationsgeschichte: „Das verändert die Perspektive.“
Zwei Jungs sitzen nebeneinander in einer Ecke und verfolgen gemeinsam den Unterricht, jeden Morgen sitzen sie so nah beieinander. Einer von ihnen öffnet seinen Rucksack und zieht zwei Notizbücher heraus. Eines gibt er seinem Freund, der öffnet es und beginnt, sich Notizen zu machen. Eine große Flagge ist auf das Cover gezeichnet, rot, gelb und grün, mit Buntstift gezeichnet.
„Lasst uns eine Gesprächssituation üben“, sagt Lehrerin Makran Ali zur Klasse. „Einer von euch ruft in einer Arztpraxis an, um einen Termin zu vereinbaren. Der andere antwortet und fragt nach Infos zum Patienten und versucht, einen passenden Termin zu finden.“ Makran Ali und ihre Kollegin Bahiya wechseln ein paar Sätze, einen Telefonanruf simulierend, um den Schülern ein Beispiel zu geben.
Zwei Jungen aus der ersten Reihe heben ihre Hände, sie wollen es versuchen. „Guten Morgen“, sagt der Erste der beiden. „Ich würde gerne einen Termin vereinbaren.“ – „Klar, für welchen Tag?“, kommt die Antwort. In der Zwischenzeit ist der Dritte der Lehrkräfte, Santafe, zu drei Jungen gegangen, die ganz hinten im Klassenraum sitzen und an einer Textverständnisaufgabe sitzen. „Wenn du nicht alleine als Lehrer vor der Klasse stehen musst, kannst du besser auf die unterschiedlichen Bedürfnisse eingehen und die Aufgaben besser auf die Schüler zuschneiden. Das ist wichtig, um an die Schüler heranzukommen“, sagt er. „Es ist auch nützlich, wenn man Arabisch spricht. Das bricht das Eis.“
Das Projekt geht über das bloße Unterrichten hinaus. „Es gibt auch Kulturangebote, die außerhalb des Klassenraums stattfinden“, sagt Goretti. „Es geht darum, die Kinder auf einem anderen Level einzubinden. Die meisten dieser Angebote suchen sich die Ehrenamtlichen in Eigenregie heraus, zum Beispiel Museumsbesuche.“
An einem Tag steht ein Besuch in der Casa de Colón auf dem Programm, im Zentrum von Las Palmas: ein Museum – im ehemaligen Regierungssitz des spanischen Regierungsvertreters auf der Insel – das Christopher Columbus gewidmet ist. Die Gruppe von Jungs hört sich aufmerksam die Erklärungen des Guides an, als sie ihm durch die Räume des alten Gebäudes folgen, vorbei an Schiffsmodellen und Schautafeln über die Reiserouten, die zur gewaltsamen Kolonialisierung der Amerikas führten.
Zwei der Jungen hängen der Gruppe hinterher; sie schauen fasziniert in einen Raum, der das Innere von Columbus’ Kabine an Bord der Niña detailgetreu rekonstruiert. „Ich liebe Geschichte“, sagt der Ältere der beiden, nachdem sein Freund ein Foto von ihm gemacht hat, im Hintergrund die Reproduktion einer riesigen alten Landkarte. Mädchen gibt es deutlich weniger in den Kursen – was auch daran liegt, dass viele der Unterkünfte für Minderjährige, mit denen das Uni-Projekt zusammenarbeitet, nur Jungs aufnehmen.
Wieder draußen vor dem Museum steht die Gruppe unter der erdrückenden gotischen Fassade des Gebäudes, die Jungs verabschieden sich. In kleinen Grüppchen gehen sie auseinander, nehmen den Bus zurück zu den Unterkünften, manche bleiben noch ein bisschen länger in der Stadt.
Das Leben in den Unterkünften ist oft nicht für die Jugendlichen. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Saidou*, ein junger Mann aus dem Senegal, der gerade vor einigen Monaten 18 Jahre alt geworden ist. „Ich war 15 Jahre alt, als ich hier ankam“, erzählt er. Sieben Tage sei er mit anderen Geflüchteten auf offener See unterwegs gewesen, bevor sie die Kanarischen Inseln erreichten. „Es war eine furchtbare Erfahrung: Wir hatten zu wenig zu essen, die starken Winde haben unser Fortkommen behindert. Einige von uns wurden seekrank und haben sich die ganze Zeit übergeben. Es gab nur einmal am Tag etwas zu essen, etwa um 15 Uhr, ein Tüte Kekse und ein bisschen Wasser.“

Einmal an Land, gab es einen Gesundheitscheck, Kleidung, Essen. Die Behörden trennten die Minderjährigen von den Erwachsenen. „Ich wurde zunächst zu einer Unterbringung für Minderjährige auf Teneriffa geschickt, dann nach Las Palmas.“ Saidou sagt, es sei schwierig gewesen, noch mal in ein Boot zu steigen. „Ich hatte eine Phobie gegen Wasser entwickelt nach den Erlebnissen der Flucht.“
Die Unterkunft in Las Palmas, in die man Saidou schickte, war nicht für so viele Menschen ausgelegt: „Da waren 300 von uns, in einer Einrichtung, die gerade mal groß genug war für ein paar Dutzend.“ 18 Monate sei er dort gewesen, sagt Saidou, „ohne irgendein Schulangebot“. Aber Saidou kam in Kontakt mit der Ecca Social Foundation, Teil des Jesuiten-Netzwerks Red Servicio Jesuita a Migrantes in España. Er nahm an einigen Trainigskursen der Organisation teil: Spanischkurse, natürlich, aber auch ein Führerscheinkurs und Berufsvorbereitung. Inzwischen macht Saidou eine Ausbildung zum Schweißer. Als er volljährig wurde, bekam er zudem Zugang zu einem Geflüchteten-Wohnprojekt der Stiftung. „Ich würde gerne hierbleiben, um zu arbeiten“, sagt Saidou.
Die Situation für unbegleitete Minderjährige ist tatsächlich sehr komplex auf den Kanarischen Inseln. Die Unterkünfte werden von der autonomen Inselregierung betrieben, die mit einer steigenden Zahl von Ankünften umgehen musste. In den letzten Jahren wurden neue Unterkünfte eröffnet; mitunter sind die Gebäude ungeeignet. Die lokale Presse berichtet über Interventionen, wo die Behörden überbelegte und schmutzige Unterkünfte geschlossen haben. Zugleich gibt es Berichte über Proteste gegen die Unterbringungsbedingungen und über Selbstverletzungen in den Unterkünften.
Im vergangenen Jahr ist die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten signifikant gestiegen, wie die Inselregierung mitteilt. Im September 2024 waren demnach rund 4.300 geflüchtete Jugendliche registriert, diese Zahl stieg bis Februar 2025 auf mehr als 5.800. Damit war die Insel für rund 37 Prozent aller minderjährigen Geflüchteten spanienweit zuständig. Laut den Behörden sind die 86 Aufnahmezentren für diese Jugendlichen im Schnitt zu 123 Prozent ausgelastet, also überbelegt.
Die Stiftung Ecca Social warnt: „In einem System, das nicht genügend Kapazitäten und Ressourcen hat, mit diesen Zahlen umzugehen, erhöht das Gefährdungspotenzial für die Kinder und erfordert umgehende Maßnahmen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten und ihre Grundrechte sicherzustellen.“
Laut der Stiftung ist letzteres aber angesichts der hohen Zahlen der jungen Geflüchteten „unmöglich“. Erschwert werde die Situation auch durch politische Stimmungsmache gegen Geflüchtete. Ecca Social wünscht sich einen möglichst pragmatischen Umgang mit der Situation, ohne politische Instrumentalisierung: „Es geht um den gesicherten Zugang zu Gesundheitsvorsorge, Bildung, psychologischer Unterstützung.“
Tatsächlich gibt es eine Auseinandersetzung zwischen der autonomen Inselregierung und der Zentralregierung in Madrid über die Zuständigkeiten für die unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. Die Inselregierung will, dass die Jugendlichen besser verteilt werden über alle autonomen Regionen Spaniens – mit dem Ziel, die Kanarischen Inseln zu entlasten. Im März hatte der Oberste Gerichtshof einem Ersuchen der Kanarischen Inselregierung stattgegeben und angeordnet, die Zentralregierung in Madrid müsse 1.000 Minderjährige anderweitig unterbringen. Das Gericht argumentierte, das sei „unabdingbar,“ um das Überbelegungsproblem in den Unterkünften auf den Kanaren zu lösen.

Darüber hinaus hatte die spanische Regierung im März aber auch schon selbst ein Dekret verabschiedet, laut dem 4.400 minderjährige Geflüchtete nach einem bestimmten Verteilschlüssel über alle autonomen Regionen verteilt werden sollen, und einen Fonds über 100 Millionen Euro für die Regionen eingerichtet – sehr zum Missfallen der rechtskonservativen Parteien.
Die kanarischen Behörden haben im März einen Besuch in den Unterkünften für unbegleitete Minderjährige verweigert. Die Begründung: Man befinde sich gerade in einer sehr komplizierten Situation, „die Auslastung ist hoch“, ließ das Pressebüro der zuständigen Behörde für Soziales, Gleichstellung, Jugend, Kinder und Familie mitteilen. Eine weitere Anfrage im Mai zu den mangelhaften Kapazitäten auf den Inseln für die Zahl der Ankünfte blieb ebenfalls unbeantwortet. Auch Abgeordnete im Parlament der Kanaren, die eine konservativ geführte Regionalregierung haben, schweigen auf die Frage, wie man weiterkommen will im Zuständigkeitsstreit mit der sozialdemokratischen Zentralregierung in Madrid. Umgesetzt ist bisher noch nicht einmal die Anordnung des Gerichts aus dem März über die 1.000 Minderjährigen.
Makran Ali zieht mit einem Marker eine schwarze Linie längs über das Whiteboard, von oben nach unten. „Bildet zwei Teams! Jedes Team schreibt auf seine Hälfte der Tafel eine spanische Vokabel, die mit Essen zu tun hat. Mal schauen, wie viel euch einfällt.“ Schnell drängen sich die Jugendlichen vor der Tafel, jedem fällt noch etwas ein. Santafe packt derweil die Arbeitsblätter zusammen und sagt mit einem Lächeln: „Am Anfang ist es immer schwierig, oft sind die Jungs sehr in sich gekehrt. Aber am Ende kommt der ganze Enthusiasmus, mit dem sie lernen, heraus.“ Die Stunde ist vorbei, ein Junge grüßt die Lehrerin im Hinausgehen. „Bis morgen!“, sagt Makran Ali.
*Name zum Schutz der Person geändert.
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