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Innensenator Geisel zum Breitscheidplatz„Da wurde ich ins Amt katapultiert“

Nur elf Tage war Andreas Geisel Innensenator, als der Anschlag in Berlin verübt wurde. Ein Interview über jene Nacht und ihre Lehren für die Sicherheitspolitik.

„Ich habe funktioniert in dieser Situation“: Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) Foto: dpa
Bert Schulz
Interview von Bert Schulz und Plutonia Plarre

taz: Herr Geisel, wo waren Sie am 19. Dezember 2016 gegen 20 Uhr?

Andreas Geisel: In der Letzten In­stanz, das ist eine Kneipe hier direkt um die Ecke von meinem Amtssitz in der Klosterstraße. Ich habe dort mit den SPD-Innenpolitikern über der Jahresplanung gesessen. Gegen 20.20 Uhr klingelte dann mein Handy.

So spät? Der Anschlag am Breitscheidplatz passierte um 20.02 Uhr.

Mein Staatssekretär war dran. Er sagte: „Achtung, wir haben ein Problem.“ Da waren die Einsatzkräfte schon vor Ort. Ich bin dann mit Blaulicht durch die Stadt gefahren worden und war etwa eine halbe Stunde nach der Tat am Breitscheidplatz. Unterwegs habe ich den Regierenden Bürgermeister informiert.

Was war Ihr erster Gedanke, als Sie den Satz Ihres Staatssekretärs hörten?

Ich dachte: Jetzt ist es passiert. Theoretisch war ich darauf eingestellt, dass etwas geschehen könnte. Es war aus der Perspektive der Sicherheitsbehörden ja nicht die Frage, ob ein Anschlag passiert, sondern nur, wann. An dem Abend bin ich in das Amt katapultiert worden.

War diese Nachricht ein Schock?

(denkt lange nach) Es klingt bestimmt seltsam: Ich spürte Verantwortung. Natürlich war ich betroffen, aber ich stand nicht neben mir.

Ist das das Politiker-Gen?

Ich kann Ihnen das nicht erklären. Es gibt Menschen auch in politischen Führungspositionen, die solche Dinge näher an sich heranlassen. Ich habe funktioniert in dieser Situation. Das Amt passt auch strukturell zu mir.

Man hört, dass Sie viel bei Polizei und Feuerwehr unterwegs sind.

Das stimmt. Ich lerne Menschen kennen – und nicht nur die mit Gold auf der Schulter. Ich fahre auch mal Streife mit.

Wollen Sie ein Innensenator zum Anfassen sein?

Wenn ich 20 Minuten bei der Polizei vorbeischaue, dann treffe ich eher auf Befangenheit. Klar, solche Besuche sind auch vorbereitet. Ich muss also schon drei Stunden bleiben, um ein offenes Gespräch zu bekommen.

Andreas Geisel

Der Senator Der 51-Jährige Ostberliner wurde überraschend Innensenator. Seit 2011 war er Bürgermeister von Lichtenberg, ab 2014 Stadtentwicklungssenator in der SPD-CDU-Regierung. In den rot-rot-grünen Koalitionsverhandlungen im Herbst 2016 schnappte die Linkspartei der SPD dieses Amt weg. So wurde Geisel am 8. Dezember 2016 oberster Dienstherr der rund 17.000 Polizisten. Der Anschlag Geisel war erst elf Tage im Amt, als Anis Amri auf dem Breitscheidplatz 12 Menschen tötete und rund 70 teilweise schwer verletzte.

Die Aufklärung Amri wurde von der Polizei bereits mehrere Monate vor dem Anschlag überwacht – die Observation wurde jedoch abgebrochen. Warum, sollte der von Geisel im April eingesetzte Sonderermittler Bruno Jost klären. Inzwischen beschäftigt sich auch ein Untersuchungsausschuss mit den Fehlern der Behörden. (bis)

Was ist jetzt, ein Jahr danach, die Lehre aus dem Anschlag am Breitscheidplatz. Der Senatssonderermittler Bruno Jost hat ja viele Schwachstellen aufgedeckt.

Aufklärung muss sein, auch an den Stellen, an denen es wehtut. Für mich ist aber wichtig, dass wir das nicht nur retrospektiv betrachten. Die Bedrohungssituation ist ja weiterhin da.

Und was ist die Folge?

Wir sind heute besser aufgestellt als vor dem Anschlag.

Im Landeskriminalamt (LKA) haben wir den Staatsschutz gestärkt, indem wir eine von den acht Mordkommissionen abgezogen und in den Staatsschutz verlagert haben. Der Jost-Bericht hatte festgestellt, dass der Staatsschutz zu schlecht ausgestattet ist. Im nächsten Haushalt haben wir neue Stellen geschaffen, davon 100 allein beim LKA. Und wir verändern die Struktur dort, damit noch mehr Mitarbeiter beim Staatsschutz arbeiten können.

Wissen Sie inzwischen, wer angeordnet hat, dass die Observation des späteren Attentäters Anis Amri nach sechs Wochen abgebrochen wird?

Wissen nicht, aber ich habe eine Vorstellung. Ich warte aber noch auf den Bericht der polizeiinternen Untersuchungsgruppe Lupe, der bis Februar vorliegen soll.

„Es war am Anfang unklar, was genau auf dem Laster geladen war“: der Terrorlaster am Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 Foto: dpa

Hat der Staatsschutz die sogenannten Gefährder, zu denen auch Amri zählte, jetzt besser im Blick?

Wir sind heute besser aufgestellt als vor dem Anschlag. Auch was die Zusammenarbeit mit Bundesbehörden und anderen Ländern betrifft. Ich war vor drei Wochen in Brüssel und habe mir dort die Zusammenarbeit des Brüsseler SEK mit der Feuerwehr angeschaut. Dort ging es um die Tatsache, dass die Zahl der Toten bei Anschlägen in Europa sehr hoch ist, weil die Rettungskräfte zu spät an die Tatorte gelangen. In Paris beim Anschlag auf die Konzerthalle Bataclan sind bis dahin fast zwei Stunden vergangen. Viele Opfer waren dann leider verblutet.

Waren auch die Berliner Rettungskräfte zu langsam?

Am Breitscheidplatz waren sie sogar sehr schnell vor Ort. Hier war der kritische Punkt eher, dass die Rettungskräfte gearbeitet haben, ohne dass der Lkw gesichert war. Es war am Anfang unklar, was genau auf dem Laster geladen war. Die Rettungskräfte haben sich selbst gefährdet. Wir müssen lernen, wie man geordnet vorgehen und trotzdem Menschenleben retten kann.

Angesichts der vielen Pannen im Fall Amri: Wieso gab es keinerlei personelle Konsequenzen?

Erst wird aufgearbeitet, und dann wird entschieden. Es ist immer sehr einfach, schnell Schuldzuweisungen vorzunehmen. Wenn man den Anschlag auf dem Breitscheidplatz mit Anschlägen in anderen europäischen Ländern und auch in München vergleicht, ist eine Chaosphase nach dem Anschlag nicht ungewöhnlich. Woher sollten die Berliner Polizei und Feuerwehr Erfahrung haben? Unsere Schlussfolgerung jetzt heißt: Üben, üben, üben. Und außerdem: Sie stellen die Polizei nicht besser auf, indem Sie sie enthaupten.

Wird es noch Konsequenzen geben?

Die Berichte werden zeigen, ob das notwendig ist.

Hätte Ihr CDU-Vorgänger Frank Henkel, der damals ja politisch für den Zustand der Polizei verantwortlich war, zurücktreten müssen, wenn er noch im Amt gewesen wäre?

Es steht mir nicht zu, das zu personalisieren. Bei der Ausstattung und Ausrüstung von Polizei und Feuerwehr gibt es viel aufzuarbeiten. Wir hatten 2016 rund 16.700 Polizisten auf der Straße. Im Jahr 2000 waren es noch 18.000. In dieser Zeit ist die Stadt aber um 400.000 Einwohner gewachsen.

Die Stellen hat die rot-rote Koalition (2002 bis 2011) gestrichen.

Deswegen ist es auch zu einfach, das allein auf Herrn Henkel zu schieben. Wenn wir jetzt jedes Jahr 1.200 Polizisten einstellen und berücksichtigen, dass gleichzeitig viele KollegInnen aus Altersgründen ausscheiden, sind wir 2021 wieder bei 18.000 Polizisten.

Bei Henkel fällt uns sofort die Rigaer Straße ein. Das ist ja weiterhin ein Brennpunkt.

Das Problem dort ist umfassender, weil das Viertel sehr stark von der Gentrifizierung betroffen ist und enorm unter Druck steht. Daraus resultiert auch manche Solidarität von den Anwohnern mit den Besetzern der Rigaer 94.

Es sind ja keine Besetzer.

Das Hinterhaus ist besetzt, das Vorder­haus ist langfristig vermietet. Was ich dort erlebe, hat viel mit offenem Gangstertum zu tun. Ich habe die Einschüsse der Zwillen gesehen an den Nachbarhäusern; ich habe mit Anwohnern gesprochen, die sagen, sie äußerten sich nicht mehr öffentlich, weil sie abends Besuch hatten mit der Aussage: „Wir wissen, wo deine Kinder schlafen.“ Das ist nicht mit Gesprächen und Sozialarbeitern zu lösen. Da ist staatliche Repression erforderlich – und deswegen stehen auch jede Nacht 20 Bereitschaftspolizisten in der Rigaer Straße.

Im Senat gibt es Bestrebungen, dass eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft das Haus 94 kauft. Warum?

Wir brauchen einen handlungsfähigen Eigentümer. Von konservativer Seite wird gesagt, wir wollten das Haus erwerben, um es den Bewohnern zu übergeben. Das ist falsch. Sie kommen nur rechtmäßig hinter die Tür …

Sie wollen also rein ins Haus?

Die jetzige Situation ist auf Dauer nicht hinnehmbar. Das Haus ist verbarrikadiert, wir erleben immer wieder Anschläge aus dem Haus auf die Polizei. In einer normalen Situation würde die Polizei reingehen, das geht aber derzeit nicht. Wir brauchen einen kooperativen Eigentümer, der die Polizei auch ruft. Den haben wir nicht, weil er seine Identität verbirgt.

Theoretisch war ich darauf eingestellt, dass etwas geschehen könnte. Es war ja nicht die Frage, ob ein Anschlag passiert, sondern nur wann.

Auch Sie wissen nicht, wer der Eigentümer ist?

Nein. Deswegen ist es für die Polizei ganz schwer, sich rechtmäßig zu verhalten.

Diese Taktik ist mit den Koalitionspartnern von Grünen und Linken abgesprochen?

Ja.

Anders als Ihre Initiative für eine Verlängerung der Residenzpflicht für anerkannte Asylbewerber, damit diese nicht nach Berlin umziehen können.

Das habe ich mit den Innensenatoren von Hamburg und Bremen besprochen. Alle großen Städte müssen auf die Herausforderung in der Flüchtlingspolitik reagieren. Es hilft nichts, politische Ansichten zu formulieren, dann aber nicht in der Lage zu sein, sie umzusetzen.

Was genau meinen Sie?

Die Situation derzeit ist sehr schwierig: 45.000 Menschen leben in Notunterkünften in Berlin; wir haben keine Vorstellung, wie die Schulpflicht eingehalten wird; wir haben keine Vorstellung, wie wir die Wohnsituation dieser Menschen langfristig verbessern wollen. Wir beziehen jetzt die Container auf dem Tempelhofer Feld, gleichzeitig erlaubt das von Rot-Schwarz geänderte Tempelhof-Gesetz diese Nutzung nur bis 2019. Und wir wissen, dass im nächsten Jahr, wenn wir die Residenzpflicht kippen sollten, der Zuzug nach Berlin in nicht unerheblichem Maße zunimmt. Da sage ich: Zur verantwortlichen Politik gehört auch dazu, die Vo­raussetzungen zu schaffen, um die Lage nicht zu verschärfen.

Das sind keine neuen Erkenntnisse. Warum trotzdem dieser Alleingang?

So ein Treffen unter Innensenatoren entwickelt auch eine eigene Dynamik.

Viele Grüne und Linke kritisieren generell, dass Sie den mühsam ausgehandelten Koalitionsvertrag Stück für Stück aushöhlen.

Diese Kritik ist mir zu pauschal. Ein Koalitionsvertrag ist nichts Statisches. Wir müssen auf der Höhe der Zeit sein, und da bringt es nichts, sich auf Positionen zurückzuziehen, die man mal ausgehandelt hat.

Aber Sie bringen doch die Koalition durch Ihre Vorstöße immer wieder ins Schlingern.

Ich stelle weder die Koalition infrage noch den Koalitionsvertrag. Aber natürlich ist meine Rolle auch, in die Mitte der Gesellschaft auszustrahlen. Ich versuche, mit Augenmaß vorzugehen.

Mit Augenmaß Grenzen überschreiten!

„Auch beim Thema Videobeobachtung glaube ich, dass die bisherige Position der Koalition nicht ausreicht“, sagt Geisel Foto: dpa

Nein, aufmerksam zu machen, an welchen Stellen wir Handlungsbedarf haben. Auch beim Thema Videobeobachtung glaube ich, dass die bisherige Position der Koalition nicht ausreicht.

Welchen Punkt meinen Sie?

Die Überwachung der kriminalitätsbelasteten Orte ist noch nicht optimal. Nehmen Sie das Beispiel Kottbusser Tor. Seit Februar ist eine Einsatzgruppe ständig vor Ort: Das hat die Situation verbessert. Aber die meisten Straftaten finden nachts statt, die räumliche Situation am Kotti ist sehr verwinkelt. Für die Polizisten ist es sehr schwer, Verdächtige zu identifizieren. Eine Videobeobachtung wäre sehr sinnvoll, um Beweise zu sichern.

Was heißt das?

Wir müssen das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz (Asog) verändern. Derzeit dürfen wir nur An- und Versammlungen filmen, von denen eine konkrete Gefahr ausgeht. Das reicht für den Alltag am Kotti nicht aus. Das heißt nicht, dass wir flächendeckend videoüberwachen; auch nicht, dass wir ungefiltert Datenmengen sammeln, mit denen wir überhaupt nicht umgehen können.

Heißt das, dass die Polizei jederzeit filmen kann, wenn sie will?

Ich möchte, dass Polizisten Beweise sammeln können. Das können wir bisher nicht. Und ich glaube, dass das in der Bevölkerung zu Unmut führt.

Aber für die Asog-Änderungen brauchen Sie den Koalitionspartner.

Ich versuche, sie zu überzeugen.

Lehnen Sie das Volksbegehren für Vi­deo­überwachung an 50 kriminalitätsbelasteten Orten ab?

Das Volksbegehren überzieht weit. Und viele Teile in dem Gesetzentwurf sind nicht rechtskonform oder machen keinen Sinn.

Sie lehnen das Begehren also ab?

Es ist sehr einfach, schnell Schuldzuweisungen vorzunehmen. Aber woher sollten die Berliner Polizei und Feuerwehr Erfahrung haben?

In seiner jetzigen Formulierung: ja!

Geht es nur um die Zahl, wären also etwa 25 kriminalitätsbelastete Orte okay?

Die Zahl 50 ist Quatsch. Wenn Sie mit Thomas Heilmann sprechen …

dem Ex-CDU-Justizsenator und einem der Initiatoren des Begehrens …

… und ihn fragen, wie er auf die Zahl gekommen ist, dann sagt er, weil das gut klinge. Das ist ein Originalzitat.

Also zehn Orte?

Derzeit sind es neun kriminalitätsbelastete Orte. Wenn es nächstes Jahr zwölf sind, sind es zwölf, wenn es acht sind, sind es acht.

Sie wollen auch den finalen Rettungsschuss einführen, also eine gesetzliche Regelung, wann es legal ist, dass ein Polizist einen Menschen ­erschießt.

Bischof Dröge hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Rechtssituation in Berlin dazu führt, dass die Verantwortung für einen tödlichen Schuss auf die Polizisten abgeladen wird und nicht auf die eigentlichen Verantwortungsträger.

Das ist doch die alte Diskussion. Es gibt Notwehr und Nothilfe, und das würde ausreichen.

Nein, das reicht nicht mehr. Wir geben damit keine Antworten auf Anschläge wie im Bataclan. Dort wurden Gruppen von Geiseln an unterschiedlichen Orten im Gebäude gefangen gehalten. Wenn Sie dort eine Befreiungsaktion durchführen wollen, muss das zeitgleich als Kommando stattfinden. Laut Rechtslage geht das in Berlin nicht. Wir dürfen die Verantwortung nicht bei den Indianern belassen, sie muss bei den Häuptlingen liegen.

Im Zweifel geben Sie das Okay dafür?

Nein. Der Polizeiführer vor Ort macht das.

Auch da müssen Sie noch viel Überzeugungsarbeit leisten.

Das ist mir klar.

Wenn Sie auf Ihr erstes Jahr im Amt zurückblicken: Sind Sie der Verantwortung gegenüber den Opfern vom Breitscheidplatz gerecht geworden?

Ich würde sagen, ich habe mein Bestes getan.

Ist das genug?

Nein. Aber ich habe noch ein paar Jahre vor mir.

Als Innensenator?

Ja. Ich hatte in diesem Jahr kaum Zeit, Atem zu holen. Wenn Sie von mir hören wollen, dass es gut gewesen wäre, vorher mal zum Telefon zu greifen und die Koalitionspartner anzurufen, bevor ich mich mit den Innensenatoren von Bremen und Hamburg treffe, dann haben Sie recht. Aber das liegt nicht am Willen, die Koalition zu torpedieren, sondern hat etwas mit der Alltagssituation zu tun. Ich breche im Dunkeln auf und komme im Dunklen nach Hause. Innenpolitik ist ein enorm dickes Brett.

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