: Innenraummonster
Biografie geopfert, Schriftstellerleben gerettet: Wolfgang Hilbig hatmit „Das Provisorium“ seinen autobiografischsten Roman geschrieben
von GERRIT BARTELS
Genau besehen habe er dieses Buch eigentlich zweimal geschrieben, hat Wolfgang Hilbig bei einer Lesung in Berlin gesagt. Einmal in der ersten Person, was ihm dann aber als zu nah dran erschien am eigenen Ego, was ihm nicht geheuer war und ihn das beinahe fertige Manuskript wieder zurückziehen ließ. Und das andere Mal mit einer dritten Person, mit der ihm aus anderen Erzählungen und Romanen schon vertrauten Hauptfigur C., die nun als eine Art Puffer zwischen ihm und dem Buch fungiert.
Wolfgang Hilbig hat sich schwer getan mit „Das Provisorium“, seinem nach „Eine Übertragung“ (1989) und „Ich“ (1993) dritten Roman, und nach der Lektüre lässt sich gut verstehen, warum: Programmatisch eingeleitet durch ein Zitat von August Strindberg („Um meine Werke schreiben zu können, habe ich meine Biografie, meine Person geopfert“), ist „Das Provisorium“ Hilbigs autobiografischstes Buch geworden, ein sehr düsteres und geradezu kaputtes dazu. Ungeschützter denn je erzählt Hilbig hier von den eigenen Deformationen, von den Schwierigkeiten, als Schriftsteller mit sich, seiner DDR-Vergangenheit und der gar nicht so schönen neuen Welt im wiedervereinigten Deutschland einigermaßen im Reinen zu sein.
Und schaut man sich seinen Protagonisten C. an, für den Hilbig auch nicht einen Glücksmoment bereithält, diesen Trinker ohne Attitüde, diesen Schriftsteller mit Schreibblockade, folgt man diesem aufmerksam auf den verschlungenen Wegen seiner dunklen Seelenlandschaften, dann kann man sich leicht vorstellen, dass es Hilbig auch mehr denn je Qualen, Schweiß und Tränen gekostet hat, sich schreibend der eigenen Identität zu versichern: „Sich schreibend als ein Subjekt“ zu erfahren, wie es in seiner 1987 erschienen Erzählung „Die Weiber“ hieß. Noch nie war es so schwer, ein Schriftsteller zu sein oder sich als ein solcher zu erfinden.
Das geht auch C. so. Der kommt Mitte der Achtziger, ausgestattet mit einem Einjahresvisum, von der DDR in die Bundesrepublik, von Leipzig, wo er eine Beziehung in die Brüche gehen lässt, erst nach Hanau und dann nach Nürnberg, wo er eine neue, nicht minder unglückselige Beziehung beginnt. Die DDR ist für ihn das Land, das ihn auf dem Gewissen hat, physisch und psychisch. Hier hat C. anfangs versucht, wie Hilbig auch, sein Leben als Arbeiter, als Bohrwerksdreher und Heizer, mit dem des Schriftstellers in Deckung zu bringen, und später dann das eine durch das andere ersetzt. Hier wurde ihm in Ablehnungsschreiben von DDR-Verlagen oft genug gesagt, dass er sich eine ordentliche Arbeit suchen solle. Und hier schrieb Wolfgang Hilbig 1981 in seiner Erzählung „Der Brief“, dass C. ein Leben lang „arbeiten“ müsse: „Was darüber hinaus ging, zielte schon buchstäblich auf ein zweites Leben, auf eine bloße Fiktion.“
Diese Fiktion folgt C. nun auch in der Bundesrepublik auf Schritt und Tritt: Er ist nicht nur ein Mann Ende vierzig, der zu ahnen beginnt, dass das Leben größtenteils aus Illusionen besteht, sondern auch jemand, dem die Wirklichkeit abhanden gekommen ist: ein Gespenst ohne Vergangenheit und Zukunft.
C. lebt in einer Zwischenwelt, für ihn ist das Provisorische der Dauerzustand, er gehört nicht mehr in die DDR, „dieses Provisorium“, und auch nicht in das andere Deutschland. Dementsprechend richtet er sich in seinen jeweiligen Wohnungen nicht ein, dementsprechend ist er dauernd unterwegs, auf Bahnhöfen, in Zügen, in Suchtheilanstalten, auf Lesetouren in Deutschland und Europa.
Da kann es passieren, dass Ereignisse wie das Reaktorunglück in Tschernobyl oder später die Ereignisse in Ungarn und Prag und die sich anschließende Grenzöffnung von C. eher am Rande bemerkt werden – bei Hilbig wird das Politische vor allem dann privat, wenn es ganz nah dran am eigenen Schriftstellererleben ist und das Erzählen schwer beeinträchtigt.
Was ja eigentlich, nach Auschwitz, auch gar nicht mehr möglich ist: In zwei Kisten, die er „Holocaust & Gulag“ genannt hat, sind in C.s Wohnung die Bücher verstaut, die den „geballten Schrecken des 20. Jahrhunderts“ enthalten, „das einzige wirklich notwendige Wissen dieses Jahrhunderts“. Angesichts dieser Schrecken seien „Geschichten der Romanfiguren nichts mehr wert, nicht einen Anschlag auf der Schreibmaschine, Abfallprodukte für Idioten“.
Ist infolgedessen die aktuellere deutsche Geschichte nicht mehr als eine Fußnote in Hilbigs Buch, verwundert die grobschlächtige Konsum- und Kapitalismuskritik, die „Das Provisorium“ von Anfang bis Ende durchzieht, umso mehr. Da werden die Menschen erst zu Menschen mit einer vollen Einkaufstüte in der Hand, da beginnen sie „zu strahlen im Glanz ihrer Liquidität“; und da träumt C. im Halbschlaf davon, wie über allen Eingängen „Shopping macht frei“ steht (Achtung, Analogie!) und die Leute ihre Identität nur aus Markennummern wie „VW Nr. 116 611“ oder „Nike 174 517“ beziehen. (Achtung, KZ-Analogie, die zweite.)
Hilbig gehen in solchen Passagen die Gäule durch, da wirkt sein wortmächtiger Furor mitunter nur banal und peinlich. Doch andererseits passt selbst das zu den vielen Insuffizienzen C.s und seiner fortschreitenden Selbstzerstörung: „Eines Tages, das war ihm klar, musste er das Monster, das seinen Innenraum besetzt hielt, beschreiben und es der Öffentlichkeit ausliefern.“
Was C. bis zum Ende nicht gelingt, hat zumindest Hilbig geschafft. Er ist noch einmal davongekommen und hat aus der ständigen Fiktion, aus seinem schwierigen zweiten Leben, etwas Reales gemacht: ein Buch. Was aber auch nicht richtig glücklich zu machen scheint. Denn am Ende, als tatsächlich noch ein wenig Licht in diesen Roman fällt, tauchen „in der aufgehenden Sonne am Ende des Bahnhofs“ doch wieder nur die drei Buchstaben eines großen Industrieunternehmens auf: AEG
Wolfgang Hilbig: „Das Provisorium“, S. Fischer, Frankfurt/M., 320 S., 39,80 DM
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