Inklusives Studieren: Der Versuch, die Ausnahme zu regeln
Fehlende Aufzüge sind nicht die einzige Schwierigkeit fürs Studieren mit Behinderung. Auch das BAföG-Amt kommt einem in die Quere.
Ein Studium mit Behinderung ist aufwendiger als eins ohne und erfordert eine Menge zusätzlicher Organisation: Egal, ob es um barrierefreie Räumlichkeiten, bestimmte Hilfsmittel für die Vorlesung oder Sonderkonditionen bei den Prüfungsleistungen geht. Jeder individuelle Fall muss ausgehandelt und verwaltet werden.
Viele Universitäten beschreiben ihr Bemühen um Inklusion mit dem Begriff des „Diversity Management“, so führt beispielsweise die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg auf ihrer Homepage im „Gender und Diversity Portal“ Maßnahmen auf, die sie im Bereich Behinderung/chronische Krankheit ergreift. Diversitäten zu managen ist dabei ein Anspruch, dem man kaum gerecht werden kann, solange Behinderungen als Ausnahmen behandelt werden. Denn die Ausnahme regeln zu wollen ist ein Widerspruch in sich, der oft genug im Handeln der Verwaltungsangestellten vor Ort aufgelöst wird.
So sieht das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) vor: Nur ein „erfolgreiches Studium“ ist unterstützenswert. Erfolgreich kann es nur sein, wenn es in vorgesehener Regelstudienzeit absolviert wird. So weit, so klar. Dass es im Kapitalismus keine staatliche Unterstützung gibt, wenn man sich Zeit für Bildung und gründlichen Erkenntnisgewinn lässt, ist zumindest nicht verwunderlich. Aber was, wenn ich aufgrund von Krankheit und Behinderung länger brauche?
Willkür der Ämter
Das ist eine der akzeptierten Ausnahmen, die es zu regeln gilt. Der Paragraph 15a im BAföG tut das folgendermaßen: „Über die Förderungshöchstdauer hinaus wird für eine angemessene Zeit Ausbildungsförderung geleistet, wenn sie […] infolge einer Behinderung […] überschritten worden ist.“ Was eine angemessene Zeit sein soll, ist nicht festgelegt und liegt damit im Ermessen der jeweiligen Sachbearbeiterin.
Sie entscheidet darüber, ob meine ständigen Krankenhaus-, Physio- und Ergotherapietermine für mein langsames Studium verantwortlich sind. Welche zeitlichen Auswirkungen es hat, Hausarbeiten mit einem Spracherkennungsprogramm zu schreiben oder ob es am Ende doch nur Faulheit ist, weshalb ich immer noch nicht fertig bin. Sie entscheidet auch über die Nachweise, die ich erbringen muss, fordert ärztliche Gutachten und Stellungnahmen an, dabei kennen wir uns nicht einmal persönlich, denn ihr Büro liegt im zweiten Stock, der Aufzug reicht nur bis in den ersten.
Menschen mit Behinderungen fordern immer wieder: „Nichts über uns ohne uns!“ Jedoch sind sie in den Redaktionsräumen des Landes kaum vertreten. Zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2016 präsentiert sich die taz am Vortag als Ergebnis einer „freundlichen Übernahme“.
Darin erzählen Autor_innen von sich. Davon, dass sie nicht „an den Rollstuhl gefesselt sind“ oder „an ihrem schweren Schicksal leiden“. Davon, wie es ihnen im Alltag und im Beruf ergeht. Koordiniert wird die Übernahme von Leidmedien.de. taz.mit behinderung – am Kiosk, eKiosk und natürlich online auf taz.de.
Es sind die Verwaltungsangestellten, die vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen, Vorurteile und Stimmungen die Gesetze umsetzen. Sie haben immer einen Ermessensspielraum, der umso größer wird, wenn es mal nicht gelingt, die Einzelfälle in Studienordnungen und Bestimmungen zu integrieren. Und allzu häufig kommen diese Entscheidungsmöglichkeiten nicht etwa den Studierenden zugute, wie der BAföG- und Sozialberater des AStA der Uni Münster feststellt: „Tatsächlich gibt es nur sehr wenige Urteile dazu, weshalb die Angestellten viel Freiraum hätten, um im Sinne der Studierenden zu entscheiden. Erfahrungsgemäß wird davon aber kaum Gebrauch gemacht, sondern lieber abgelehnt.“
Diese Ermessensspielräume sind es, die ein Studium mit Behinderung zusätzlich erschweren. Sie sind nicht durchschaubar, produzieren neue Abhängigkeiten und bedeuten einen enormen Mehraufwand. Eine wirklich barrierefreie Hochschulpolitik müsste sich der Widersprüche bewusst sein und diese Erkenntnis zum Ausgangspunkt ihrer Bestrebungen machen.
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