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Informationen über Hirschfelder

■ Zwischen Mythos und Wirklichkeit: Heute liest Norbert Gstrein im Literaturhaus aus „Die englischen Jahre“

Am Anfang von Die englischen Jahre stehen sowohl der Leser, als auch die weibliche Erzählerin vor einem Spiegelkabinett voller Informationen, dessen Zentrum die Biografie des verstorbenen Schriftstellers Gabriel Hirschfelder darstellt. Irrwege gibt es reichlich, und wer sich beeilt, läuft gegen Wände.

Per Zufall lernt die junge Frau in London die letzte Ehegattin des jüdischen Autors Hirschfelder kennen – jenen Schriftsteller, den ihr ehemaliger Lebenspartner Max einst mit seiner pathetischen Hommage à Hirschfelder zu einem Mythos erhoben hatte. Schnell wird klar, dass es bei ihrer Recherche nicht nur darum geht, Informationen zu sammeln, sondern auch zu trennen. Während das Porträt Hirschfelders anfangs noch von Max' Schwärmereien geformt ist – „die Schriftsteller-Ikone, der große Einsame, der Monolith“ –, umschreiben ihn die Worte seiner Ex-Frau Margaret umso nüchterner: „Ein Morgenmuffel, gewiß, ein unausstehlicher Mensch bis gegen Mittag, ein Gesellschaftstrinker, kleinlaut.“

Die Aufgabe besteht hier daraus, zwischen Mythos und Wahrheit, Spiegelung und Realität zu unterscheiden, den wahren Charakter Hirschfelders aus dem Informationsfluss herauszufiltern. Die Aussagen der drei Lebensgefährtinnen widersprechen sich und lassen Leser und Erzählerin zweifeln, ob so etwas wie die wahre Identität des Schriftstellers überhaupt existiert. Dass die narrative Stimme bei der Mystifizierung auch noch aktiv mitwirkt, die Puzzleteilchen leichtsinnig zu einer direkten Erzählung aus der Sichtweise Hirschfelders zusammenfügt, dabei aber zugibt, dass „ich mir nicht mehr sicher sein konnte, daß es wirklich so war“, verlagert das literarische Labyrinth nur noch auf ein zweites Level.

Verwirrung erzeugt Norbert Gstrein hier keineswegs durch surreale Verschrobenheit, sondern gerade durch eine realistische, detailverliebte Sichtweise. Irgendwann wird klar, dass sich hinter dem Schriftstellermythos zwei Menschen verbergen, der wahre Hirschfelder bei einem Kartenspiel während der Internierungshaft auf der Isle of Man seine Idendität verwettet hat und später bei einem Schiffsunglück ums Leben kam. Bis zum Ende bleibt das kontinuierliche Wechselspiel von Original und Fälschung für Gstrein Werkzeug beim Kreieren von Spannungsbögen und Mittel der Demythologisierung. Als die Erzählerin ihrem Ex-Freund Max die Ergebnisse präsentiert, reagiert dieser begeistert: „Ich würde Äden RomanÜ aus deiner Sicht schreiben.“ Philip Oltermann

heute, 20 Uhr, Literaturhaus; Norbert Gstrein: „Die englischen Jahre“. Roman. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1999, 360 Seiten, 39,80 Mark

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