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Ina Bruchlos beleuchtet MentalitätenDie Rituale der St. Paulianer

Die Hamburger Autorin Ina Bruchlos wurde spät zum FC-St.-Pauli-Fan. In ihren neuen Erzählungsband erkundet sie die Absurdität dieses Zustands.

Schnipsel statt Rauch: St. Pauli Fans feiern ihren Verein Foto: Daniel Reinhardt/dpa

Hamburg taz | Gleichzeitig drinnen und draußen sein, das eigene Tun und Denken in Echtzeit spiegeln: Das kann sie gut, die Künstlerin und Autorin Ina Bruchlos, die in Aschaffenburg geboren wurde und seit 1997 in Hamburg wohnt. Erst durch ihre Partnerin ist sie mit Ende 30 zum St.-Pauli-Fan geworden. Nun hat sie darüber in ihrem neuen Erzählungsband „Suche Stehplatz Nord“ geschrieben, aus dem sie demnächst im Hamburger Literaturzentrum liest.

Dabei ist sie im Hauptberuf bildende Künstlerin, zeichnet viel, hat sich jahrzehntelang nicht für Fußball interessiert. Aber dann ist ihre Freundin jeden zweiten Sonntag ins Stadion gegangen, und Ina wollte mit. „Mir hat das gleich gefallen – die Festival-Atmosphäre, die skurrilen Bemerkungen“, erzählt sie. Dazu der Zusammenhalt und wenig Randale.

So ist sie peu à peu zum FC-St.-Pauli-Fan geworden, hat Rituale, Kleidung und Überzeugungen wie eine seltsame Fremdsprache gelernt. Inzwischen weiß sie, dass man bei der Eingangshymne erst beim Gitarren-Riff das Konfetti in den Becher schüttet, dass der Kapuzenpulli das wichtigste Kleidungsstück ist und dass man in Hamburgs City getrost mit FC-St.-Pauli-Mütze rumlaufen kann, weil der Verein in der Regel beliebt ist.

In den Kneipen anderer Stadtteile nimmt sie die Mütze lieber ab – und trotzdem fragt manchmal ein boshafter Kellner, wie der (chronisch abstiegsgefährdete) Verein gespielt hat. „In St. Pauli fragt man das seltener. Da wissen die Leute meist, wie das Spiel ausging“, schreibt die Ich-Erzählerin in einer ihrer amüsanten, gekonnt beiläufigen Erzählungen.

Intelligenter Muntermacher

Eigentlich hat sie die 25 Texte für die allmonatliche „Lesebühne“ in einer Hamburger Bar verfasst, an der sie vor Corona regelmäßig teilnahm, und die Leute haben sich jedes Mal kaputt gelacht. Jetzt kann man es komprimiert und am Stück tun; ein intelligenter Muntermacher in Lockdown-Zeiten.

Das Buch

Ina Bruchlos: „Suche Stehplatz Nord“, Verlag Minimal Trash Art, 182 Seiten, 12,50 Euro. Die für Do, 21. 1., geplante Lesung im Hamburger Literaturhaus ist wegen Corona verschoben. Ein neuer Termin steht noch nicht fest.

Dabei versteht man zu Beginn als Nicht-Fan nicht mal, was „braun-weiß“ bedeutet, das einem in der ersten Geschichte ohne Vorwarnung vor die Füße geworfen wird. Aber man hält natürlich durch, es ist ja ein „Fremdsprachen“-Lehrbuch, und bald wird es leichter. Man lernt, quasi mit der Protagonistin, die Codes jenes Inner Fan Circles, in dem sie immer noch nicht ganz angekommen ist: Die Ich-Erzählerin scheint hin- und hergerissen zwischen dem Ehrgeiz, Bescheid zu wissen und ironischem Abstand zu alldem.

Denn diese Codes sind skurril, abergläubisch, ritualbehaftet – wie eine Religion, der alle huldigen, obwohl sie wissen, dass sie erfunden ist. Mit archaischer Akribie pflegen die Fans magische Handlungen, um den Sieg zu gewährleisten – so, wie man früher die Götter bezirzte, damit die Ernte gelang.

Das magische Denken bleibt

Auch der St.-Pauli-Fan will Kontrolle gewinnen, und darum beschreibt die Protagonistin in der Geschichte „Was ich tun muss“ minutiös, wie sie zum Sieg beitragen kann: ein bestimmtes Shirt tragen, aus der Totenkopf-Tasse trinken, weder von der Arbeit kommen noch in Aschaffenburg weilen, im Stadion nicht rechts von der Freundin stehen – jedenfalls nicht gegen Kaiserslautern. Das hat sie aus jahrelangen Beobachtungen zusammengeklaubt: Exakt prägt sie sich nach den raren St.-Pauli-Siegen jedes Detail der Stadionsituation ein, um sie wiederholen zu können.

Was natürlich nicht klappt, und überhaupt: „Vielleicht ist das kompletter Unsinn, und ich müsste rein gar nichts von alldem beherzigen. Denn manchmal … sind es tatsächlich die Spieler, die in der Lage sind, ein Spiel zu entscheiden.“ Der Satz kommt wie eine späte Erkenntnis daher. Den Selbstzweifel des Fans, sein magisches Denken bannt er nicht.

Dass der Fan im Übrigen jede gegen St. Pauli ausfallende Schiedsrichterentscheidung anzweifelt, versteht sich von selbst. Das sei der Stadionsog, sagt Ina Bruchlos im Telefonat. „Wenn die ganze Kurve zweifelt, glaubt man selbst, es genauso gesehen zu haben.“ Da habe man ja auch nicht die Wiederholungen der Szene wie im Fernsehen, mit dem sie wegen Corona derzeit vorlieb nehmen müsse.

Außerdem wisse jeder St. Paulianer: „Wir sind die Guten.“ Daran ändern Fakten wenig: Als ein Video das Foul ihrer Mannschaft zeigt, ist die Protagonistin zunächst „verwirrt über die Unredlichkeit unserer Spieler“. Aber das hält nicht lange vor, der Fan ist so loyal wie besserwisserisch. „Verhög heißt Verhoek“ korrigiert die Protagonistin die anderen Fans. „Und obwohl ich genau weiß, wie unwichtig es ist, recht zu haben und wie selten man es gerade im Sport ohnehin meistens hat, tue ich alles, um mein Wissen zu perfektionieren … zu widersprechen“, schreibt sie, erstaunt über sich selbst. Es ist ein wohlwollendes Staunen, nicht nur über den eigenen Geist, sondern über den menschlichen ganz allgemein, über sich unbemerkt festsetzende Gewohnheiten zum Beispiel.

Das Unauffällige nachgezeichnet

Und hierin liegt die Stärke aller bislang erschienen Alltagsminiaturen von Ina Bruchlos: das scheinbar Unauffällige nicht kalt zu analysieren, sondern ironisch und bedächtig nachzuzeichnen, sodass sich die Analyse erübrigt.

Da schreibt sie zum Beispiel von jenem Abend mit einer Freundin beim Italiener. „Ich mag keine Griechen“, hat sie da gesagt und natürlich griechische Restaurants gemeint. Die Freundin missversteht. Sie wisse nicht, warum in letzter Zeit aus ihr Dinge herausplatzten, die völlig falsch seien, schreibt die Protagonistin weiter. Jedenfalls habe sie völlig unpassend erwidert, es gebe natürlich auch nette Griechen. „Ich höre meine Stimme, als säße ich mir am Stammtisch gegenüber. Die Freundin schweigt. Aus der Sache komme ich nie wieder raus.“

Fettnäpfchen, Haareraufen. Solche Situationen kennt jeder, und das ist das Schöne an diesen Geschichten: Sie sind nah, erzählen von der Absurdität des Alltags, von Verführung durch die Masse, von den erratischen Wegen des Geistes. „Wir spielten gegen Dresden, und ich bemerkte missmutig, dass der Schiri bestimmt ebenfalls aus Dresden käme, und das, obwohl er bestimmt nicht aus Dresden kommen dürfe, um nicht NICHT gegen Dresden zu pfeifen“, schreibt sie. „Meinem Baum der Verschwörungstheorien wuchsen immer mehr Äste.“

Die Geschichte geht noch weiter, aber das Baum-Bild setzt sich fest. Suggeriert, dass es an ihr ist, sinnlose, im schlimmsten Fall destruktive Gedanken zu stoppen, statt ihnen weiter zu folgen und ihnen Macht zu verleihen.

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