In die Sonderschule abgeschoben: Philipp darf nicht mit Normalos lernen
Nach sechs Jahren Integration zwingt das Schulamt in Marburg-Biedenkopf ein Downsyndrom-Kind zum Besuch einer Sonderschule.
BERLIN taz | "Zurück zu den Wölfen": Das ist der Satz, den Anke Koch-Röttering von ihrem Sohn Philipp immer wieder hört. Wölfe. So hieß seine Lerngruppe in der Schule, in die das Downsyndrom-Kind Philipp bis zum Ende der sechsten Klasse ging - zusammen mit nichtbehinderten Schülern. Bis heute trägt Philipp stolz die T-Shirts der Wölfe.
Inzwischen muss der heute 15-Jährige auf eine Sonderschule für "Praktisch Bildbare" gehen, wie das in Hessen heißt. "Müssen" ist das richtige Wort. Denn Philipp Koch will es nicht, seine Eltern wollen es nicht - aber das Schulamt Marburg-Biedenkopf zwingt sie dazu. "Im vorliegenden Fall", heißt es in einem Schreiben der Behörde, "kann das Gewollte finanziell nicht ermöglicht werden." Der Topf für Förderstunden ist angeblich leer.
Philipps Mutter beobachtet mit Schrecken, wie sich ihr Sohn im vergangenen Dreivierteljahr entwickelt hat. Vorher habe er sich ständig mit anderen Klassenkameraden getroffen, zum Basketball-Spielen oder zum Kickern. An der Sonderschule habe er sich noch kein einziges Mal am Nachmittag verabredet. "Sonderschulen machen einsam", sagt Koch-Röttering. Und unselbständig, findet sie. Einmal habe sie ihren Sohn abgeholt, da spielte die Klasse Topfklopfen. "Ich will, dass mein Kind gefordert wird", sagt die Mutter. Und nicht wie ein kleines Kind verhätschelt.
Die Eltern sind nun vor Gericht gezogen. Denn schließlich hat Deutschland zum Jahreswechsel die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, in der sich die Vertragsstaaten zu einem inklusiven Bildungssystem verpflichten. Das heißt: Behinderte und nichtbehinderte Kinder sollen möglichst zusammen lernen. Bisher dürfen nur rund 16 Prozent der Schüler in Deutschland mit sogenanntem sonderpädagogischen Förderbedarf auf normale Schulen gehen, in Zukunft sollen es 80 bis 90 Prozent sein - wenn die Kultusbehörden denn mitspielen.
Bei Philipp Koch mauern die Behörden, und das ist noch milde ausgedrückt.
Der Fall hat das Zeug zum Präzedenzfall. Die Eltern haben sich einen renommierten Anwalt genommen: den ehemaligen hessischen Justizminister Rupert von Plottnitz, der die Angelegenheit notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht tragen will.
Damit wäre auch zahlreichen anderen Eltern geholfen, deren Kinder gegen ihren Willen auf Sonderschulen verfrachtet werden. Von 213 Fällen allein in Hessen weiß die "Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben - gemeinsam lernen". Das Büro der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Karin Evers-Meyer, berichtet von Dutzenden Briefen "völlig verzweifelter Eltern", denen es nicht gelingt, ihre Kinder auf einer normalen Schule unterzubringen - trotz der UN-Konvention, die viele als Meilenstein sehen.
Die hessischen Behörden denken da offenbar anders. Von dem "von der Bundesrepublik Deutschland als Vertragsstaat ratifizierten Abkommen wird das beklagte Land Hessen in keiner Weise betroffen", heißt es in einem Schreiben des Schulamts an das Verwaltungsgericht Gießen, das Philipps Fall verhandelt. Eine gewagte Interpretation: Schließlich haben sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat der UN-Konvention zugestimmt - und damit auch Hessen. Im Schulamt heißt es auf Nachfrage nur noch: "Wir geben derzeit in Absprache mit dem Kultusministerium keine Verlautbarungen mehr ab."
Philipps Fall ist auch eine Zumutung. Nach dem Besuch einer privaten Schule mit integrativem Konzept, die allerdings nach dem sechsten Schuljahr endete, wollten seine Eltern ihn auf eine Gesamtschule nach Marburg schicken. Die wollte Philipp tatsächlich auch aufnehmen - doch da funkte das Schulamt dazwischen.
Dass Philipp nicht auf eine normale Schule gehen darf, damit wollen sich die Eltern nicht abfinden. Anke Koch-Röttering ahnt, was ihm nach der Sonderschule droht: "Das führt direkt in den nächsten Sonderweg", sagt sie, "die Behindertenwerkstatt." Deshalb müsse Philipp so schnell wie möglich raus aus der Sonderschule. "Die Zeit rennt."
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Überraschung bei U18-Wahl
Die Linke ist stärkste Kraft
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Ukraine-Verhandlungen in Saudi-Arabien
Wege und Irrwege aus München
Krisentreffen nach Sicherheitskonferenz
Macron sortiert seine Truppen
RTL Quadrell
Klimakrise? War da was?