piwik no script img

berliner szenenIn der Schlange vorm Haus

Es regnet, wenn auch nur ein bisschen. Vorne steht ein Mann, der allen, die es hören wollen, von jahrelangen Wasserschäden und einer Hausverwaltung erzählt, die absolut unerreichbar ist – na ja, hoffentlich nehmen sie uns!

Vor der Tür haben sich in beide Richtungen jeweils ungefähr 20 Meter lange Schlangen gebildet. Der Einlass läuft per Reißverschlussverfahren – allerdings viel kameradschaftlicher, als man das aus dem Stau gewöhnt ist.

In der Menge der versammelten Wohnungsbesichtiger herrscht gemütlicher Galgenhumor. Immer wieder verlassen Einzelne unsere freundliche Gruppe. Dabei winken sie nett und wir Zurückbleibenden lächeln gequält.

Das Haus ist ein typischer Sechziger-Jahre-Bau: Großer Balkon, hässliche Böden, das weiß ich jetzt schon. So ein Baby erkenne ich inzwischen an der Schlange. Neben mir geht ein junger Mann ans Telefon: „Seid ihr noch zu Haus? Gut, ich komme jetzt. Hier stehen so ungefähr 40 Trillionen Leute.“

„Tschüs“ ruft er in die Runde und schwingt sich aufs Fahrrad. Die ungefähr 40-Jährige, die vor mir steht, schaut ihm sehnsüchtig nach. Durch die bunten Tücher, in die sie sich gewickelt hat, murmelt sie trocken auf Englisch: „Kluge Entscheidung“, bleibt aber stehen.

Ich hätte gute Lust, ein bisschen über den Wohnungsmarkt zu lamentieren, mich vielleicht sogar zu obszönen Äußerungen hinreißen zu lassen, aber das bringt ja am Ende auch nichts. Außerdem wird mein Handy langsam zu nass zum Schreiben und ich bin gleich dran. Also Kippe aus, Lächeln aufsetzen und Maske drüber – ich bin inzwischen sicher, dass man das trotzdem sieht. Ich weiß natürlich, dass das Lächeln auch nicht weiterhilft.

Hoffentlich darf ich lange genug oben bleiben, um mir mit trockenen Fingern eine Zigarette zu drehen.

Hanno Rehlinger

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen