piwik no script img

In der Mausefalle

Heute vor hundert Jahren wurde Walt Disney geboren. Er gab zwar keinen guten Zeichner ab, besaß aber ein Konzept: Mit Cartoons die Wirklichkeit zu ersetzen. Imagineering, das war seine eigentliche Kunst der Animation, und Illusion nie Ausstieg aus dem Leben, sondern dessen ideale Transformation

von HARALD FRICKE

Keiner weiß, wie alt Perdita war, als sie Walt Disney begegnete. Aber es muss 1941 in Argentinien gewesen sein, wo Disney mit seiner Entourage auf Südamerika-Tour zu Gast war. Perdita hatte Glück, denn der Mann, den seine Angestellten „Walt“ nennen durften und der für Kinder „Uncle Walt“ war, schenkte ihr eine kleine Zeichnung: „to Perdita, with my best wishes, Walt Disney“, daneben ein lachendes Gesicht von Mickey Mouse.

Die erste Freude dürfte schnell gewichen sein, als Perdita bemerkte, wie kläglich die Figur aussah – die Ohren an den Rand des Papiers gequetscht, der Mund nur eine leicht verwackelte Linie, die Nasenspitze ein notdürftig schraffierter Kuller. Überhaupt war die Signatur Disneys auf dem Blatt weit größer als der Cartoonheld. Sie wird der eigentliche Grund dafür gewesen sein, dass die Zeichnung letzte Woche bei einer Online-Auktion für ein paar tausend Dollar noch einen Abnehmer gefunden hat – nicht als Dokument von Meisterschaft, sondern als Beleg für die Existenz des Meisters.

Nein, zeichnen konnte Walt Disney nicht. Zumindest nicht mehr Anfang der Vierzigerjahre. Dass er es irgendwann zu können geglaubt haben muss, dafür spricht seine Geschichte. Warum sonst sollte der 21-Jährige aus Kansas City 1922 eine Zeichentrickfirma gründen, nachdem er kurz zuvor als Werbegrafiker gestartet war? Mag sein, dass der Markt für bewegte Bilder noch unbesetztes Terrain bedeutete, auf dem sich kreative Kräfte austoben konnten, wenn nur die Idee frisch, schnell und witzig gemacht war. Schließlich kam es beim Vorprogramm, in dem Zeichentrickkurzfilme zu dieser Zeit liefen, doch darauf an, die Massen im Kino überhaupt aus der Realität in den Film zu holen – und da war jeder Bruch mit der Wirklichkeit draußen willkommen, egal wie unbeholfen er visuell ausfiel. So sah selbst der animierte Saurier Gertie von Winsor McCay, der 1912 über die Leinwand getrottet war, gegenüber Little Nemo, seinem Striphelden aus der Zeitung, recht dilettantisch aus.

Dass McCay für den Film einen Saurier gewählt hatte, lag an der Überzeugungskraft des faktisch Unmöglichen. Bei jedem anderen Tier hätte das Publikum meinen können, es würde mit abgefilmten Fotos hinters Licht geführt. Ein Steinzeitvieh aber war ganz bestimmt unecht – und die Täuschung dafür umso echter. Auch Disney hat sich an die Regel gehalten, dass nicht die Imitation von Leben, sondern die „Illusion of Life“ das Geheimnis des Zeichentricks ausmacht. Deshalb ließ er Mickey Mouse wie Lindbergh mit dem Flugzeug fliegen oder 1928 als „Steamboat Willie“ Kapitän spielen. Und singen: Das Quieken der Maus verhalf auch dem Zeichentrick zum Durchbruch in die Tonfilm-Ära. Von diesem Moment an tauchte Disney nicht mehr auf den Listen der Animateure im Abspann auf: Statt zu zeichnen, gab er der Maus die falsetthohe Stimme – und kontrollierte sämtliche Abläufe von der Entwicklung einer Figur über die Kolorierung der Zelluloidfolien bis zum fertigen Schnitt des Films. Das war seine eigentliche Kunst der Animation: Imagineering. Mit diesem Konzept war Disney gar nicht weit vom Pop eines Warhol entfernt, der für seine Factory ebenfalls die Arbeitskraft ganzer Gruppen nutzte.

Vermutlich hätte aber auch bereits der Hase Oswald, den Disney 1927 kreiert hatte, nicht anders als Mickey geklungen. Doch das Copyright an diesem Tier besaß ein anderer: Charles Mintz, ein New Yorker Filmverleger, hatte sich mit dem Verleih zugleich die Rechte am Namen gesichert. Aus dieser Pleite lernte Disney jedoch mehr als bei all seinen vermeintlichen Bemühungen um einen besseren Zeichenstil. Er ließ sich die Maus patentieren: Mickey wurde zur Trademark von Disney, wie alle in den nächsten Jahrzehnten kommenden Charaktere auch. Donald, Goofy, Pluto, Dumbo und Pinocchio sind nicht bloß drollige Fantasiegeschöpfe aus den Walt-Disney-Studios; sie sind auch lizenzierte Produkte eines Imperiums geworden, das 1935 laut New York Telegraph allein 35 Millionen Dollar mit Merchandise einnahm. Dabei mag das Mickey-Diamantenarmband, das Cartier seiner Zeit für 1.150 Dollar anbot, zwar eine luxuriöse Ausnahme gewesen sein. Aber das edle Stück zeigt, dass Disney bei seinen Träumen von einer Welt aus tanzenden Zwergen und singenden Glockenblumen nicht nur an die Massen dachte, sondern früh schon die Wünsche der Elite bediente.

Offenbar mit Erfolg. Zur Premiere von „Snow White“ kamen 1937 Judy Garland, Charles Laughton oder Marlene Dietrich; für „Fantasia“ konnte Disney 1941 Igor Strawinsky, den Dirigenten Leopold Stokowski und den deutschen Experimentalkünstler Oskar Fischinger als Mitarbeiter gewinnen; und als in Anaheim 1955 Disneyland eröffnet wurde, war Ronald Reagan unter den Ehrengästen (später wurde er durch die Unterstützung Disneys immerhin Gouverneur von Kalifornien). Kein Filmproduzent verstand es wie Disney, die eigenen Interessen so genau auf den gesellschaftlichen Volens abzustimmen – dem Neuen aufgeschlossen, doch mit einem Fuß stets in der Vergangenheit, irgendwo zwischen den dunklen Wäldern der Brüder Grimm und den Wolkenkratzern von New York. Gleichzeitig entstand in seinen Filmen nicht das Spiegelbild, sondern eine Fiktion dieser Gesellschaft: Märchenhafte Archetypen, die das Reale längst hinter sich gelassen haben, um es im Imaginären zu perfektionieren – so wie Illusion bei Disney nie Ausstieg aus dem Leben ist, sondern dessen ideale Transformation. Dass bei diesem Prozess aus Menschen Mäuse werden, hat zumindest die Menschen nicht gestört.

Doch Disneys Welt ist weniger Überhöhung, vor allem Zerrspiegel. Geschickt karikieren die tolpatschigen Wesen doch stets nur solche Bewegungen, die einem in der Normalität ohnehin unentwegt unterlaufen. Man braucht sich bloß den Jähzorn Donalds oder das tumbe Treiben der Zwerge in „Snow White“ anzuschauen, um zu erkennen: So geht es auch in meinem Leben zu. Schon bei der Arbeit an den Storyboards legte Disney für sein Zeichenteam deshalb enormen Wert auf die möglichst akkurate Wiedergabe von Bewegungen. Erst wenn jeder Ablauf bis ins Detail durchgeplant war, ging es an die Realisation, bei der wieder und wieder neu gezeichnet werden musste, was Disney nicht gefiel. Meistens war es eine ganze Menge: Für „Snow White“ wurden in der Endphase noch zigtausend Blätter verworfen, bevor der seltsame Hüpfer im Gang des kleinen Dopey saß. Die Leichtigkeit, mit der die Figuren sich bewegen, war nicht allein der Zauber talentierter Handwerker, sondern das Ergebnis eines harten, fast militärischen Drills.

Für diese absolute Kontrolle über das doch so traumhafte Produkt ist Disney immer wieder angegriffen worden. Manche sagen: zu Recht, und denken dabei an sein diktatorisches Verhalten, mit dem er strikt die Arbeitsräume für Frauen und Männer trennte, eine Klassenhierarchie unter den Zeichnern einführte und zuletzt mit aller Härte auf den Streik 1941 in seinen Studios reagierte. Tatsächlich war die Karriere von Art Babbitt und Bill Tytla, zwei der herausragendsten Disney-Animateure, zu Ende, nachdem sie sich gegen die mäßige Bezahlung in den Studios aufgelehnt hatten. Gleichwohl gehörte die strenge Linie zum Selbstverständnis des Patriarchen: Noch Jahre nach seinem Tod 1966 haben Mitarbeiter des Unternehmens gefragt, „wie hätte Walt es wohl gemacht?“, wenn sie vor irgendeinem Problem standen. Nicht wegen der zeichentechnischen Finessen, sondern wegen der Leidenschaft, mit der Disney sich um die vollkommene Imagination kümmerte. So kann auch Andreas Platthaus in seiner Disney-Würdigung einige Sympathie aufbringen, wenn er in der FAZ schreibt: „Die berüchtigte Aussage, die er (Walt Disney) im Jahr 1947 vor dem ‚Ausschuss für unamerikanische Umtriebe‘ abgab, in der er mehrere frühere Angestellte denunzierte, war mit größter Wahrscheinlichkeit die Konsequenz aus der Angst um sein Lebenswerk – moralisch äußerst zweifelhaft, aber menschlich zu verstehen.“

Dabei war Disney schon 1941 in die Mausefalle gegangen. Als mit dem Kriegseintritt der USA die Märkte in Asien und dem von Hitler besetzten Europa zusammenbrachen, musste sich das Unternehmen auf Kriegspropaganda verlegen, um zu überleben. Für die kanadische Regierung wurde ein Zeichentrickfilm hergestellt, der die Bevölkerung zu größeren Kriegsanleihen animieren sollte. 1943 gestaltete James Algar, der zuvor bei „Fantasia“ mit Regie geführt hatte, den Film „Victory Through Air Power“ als Werbung für das strategische Luftbombardement im Zweiten Weltkrieg. Angeblich haben die gezeichneten Gebrauchsanweisungen erst Churchill und später Roosevelt von dem Vorhaben überzeugt, das am Ende zur Zerstörung von Dresden und zum Atombombenabwurf über Hiroschima und Nagasaki führte. Kontakte zur US-Regierung erklären den nuklearen Schulfilm von 1958 „Our Friend The Atom“, in dem der deutsche Wissenschaftler Heinz Haber ein Lob auf die Atomenergie singt.

Dass es Disney mit seiner Fortschrittsbegeisterung ernst war, merkt man an Disneyland. Dort unterhielten von Beginn an roboterartige Puppen das Publikum, während eine futuristische Monorailbahn um das 43 Hektar große Gelände kreiste. Drinnen war die Welt ganz Disneys Schöpfung: Angestellte in Goofy-Kostümen aus Plüsch wurden als lebensgroßer Streichelzoo für Kinder abgestellt, in jeder Maus steckte nun wirklich ein Mensch. Was beim Film noch von der Vorstellungskraft des Betrachters lebte, war jetzt in seiner mythischen Überformung dem Leben komplett anverwandelt – eine Simulation von vertrauter Fremdheit, die die eigene Fantasie lediglich wie einen unvollendeten Traum aussehen ließ. Larger than life und more real than real als Dauerzustand? Theoretiker wie Jean Baudrillard haben angesichts dieser „Agonie des Realen“, die dem Triumph der Zeichen über die Wirklichkeit folgt, beinahe den Verstand verloren. Walt Disney aber war immer so: Sein Glück bestand darin, auf einer Spielzeuglok durch seinen Garten zu fahren, als sei die Welt erst im Abgleich mit den selbst geschaffenen Verhältnissen zu ertragen. Dem wahren Mickey ist er dort wohl nie begegnet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen