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■ In den Niederlanden ist unter bestimmten Voraussetzungen Sterbehilfe gesetzlich erlaubtAufhören, künstlich am Leben zu halten

Als Truus Postma 1973 ihrer unheilbar kranken, lebensüberdrüssigen Mutter eine tödliche Dosis Morphium spritzte, stieß die friesische Hausärztin damit eine Debatte an, die bis heute anhält. Damals haben die Niederländer – als erstes und bislang einziges europäisches Land – begonnen, den „Tod auf Verlangen“, die aktive und passive Sterbehilfe, zunächst in Regeln, später in praktikable Gesetzestexte zu fassen.

Heute ist aktive Sterbehilfe bei Schwerstkranken in den Niederlanden eine Selbstverständlichkeit. Schätzungsweise viertausend Menschen lassen sich in jedem Jahr von ihrem Hausarzt eine tödliche Spritze oder einen Giftbecher verabreichen. Juristisch hat man das Problem auf typisch holländische Manier gelöst: Zwar ist Euthanasie, die vorsätzliche Lebensbeendigung durch den Arzt auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten, nach wie vor strafbar – Höchststrafe zwölf Jahre Gefängnis. Praktisch geht der Arzt aber straffrei aus, wenn er 28 Punkte eines „Bedingungskatalogs“ einhält. Der Patient muß etwa selbst und mehrfach um Sterbehilfe gebeten haben, an unerträglichen Schmerzen und einer unheilbaren Krankheit leiden. Jedoch muß der Patient nicht in einer „terminalen Phase“ sein. Und ein zweiter Arzt muß konsultiert werden.

Auch Hilfe zur Selbsttötung gilt grundsätzlich als Straftatbestand, Höchststrafe vier Jahre. Passive Sterbehilfe jedoch nicht – wie das Beenden einer „nach herrschender Ansicht medizinisch sinnlosen Behandlung“, Behandlungsabbruch auf Wunsch des Patienten oder die Präsenz beim Selbstmord.

Im November steht die nächste Neuerung auf dem offensichtlich unumkehrbaren Weg der Liberalisierung an: Nicht mehr die Staatsanwaltschaft, sondern Ethikkommissionen aus Ärzten, Pflegern, Juristen und Ethikbeauftragten entscheiden dann, ob ein Arzt seine Sorgfaltspflicht erfüllt hat. Nur wenn nicht, wird die Staatsanwaltschaft informiert. Viel spricht auch dafür, daß in der laufenden Kabinettsperiode das Strafrecht dahingehend geändert wird, daß die Beweislast beim Staat und nicht mehr beim Arzt liegt.

Seit sich in den achtziger Jahren herumsprach, daß Sterbehilfe in dem christdemokratisch regierten und traditionell tief religiösen Land zwar nicht erlaubt, aber geduldet wird, ist die internationale Aufregung groß. Den meisten Niederländern allerdings ist sie unverständlich. Nach Ansicht einer deutlichen Mehrheit hat das Parlament mit der Quasilegalisierung nichts anderes getan, als sich der jahrzehntelangen Praxis anzupassen. Laut Umfragen begrüßen achtzig Prozent der Niederländer die Möglichkeit, einen Arzt um Sterbehilfe bitten zu können. Als wesentliche Gründe nennen sie das Recht auf Selbstbestimmung sowie den Wunsch nach einem „menschenwürdigen Tod“.

Dahinter steht aber auch das fast grenzenlose Vertrauen zum Arzt. Anders als die Deutschen wechseln Niederländer so gut wie nie den Hausarzt. Nur so, heißt es, könne der auch entscheiden, ob das Leiden des Patienten „unerträglich“ sei.

Fast hunderttausend der fünfzehn Millionen Niederländer sind inzwischen Mitglied der „Vereinigung für freiwillige Euthanasie“ (NVVE). Jährlich verschickt die NVVE Tausende – rechtsverbindliche – Willenserklärungen, mit denen Patienten angeben, in welchen Situationen sie nicht länger behandelt oder künstlich ernährt werden wollen. Unter der Rubrik „Koma“ können sie eintragen, nach wievielen Wochen die Behandlung abgebrochen werden soll. Seit dem vergangenen Jahr gibt es auch eine Art Scheckkarte mit Paßfoto und Unterschrift, die jedoch auch in den Niederlanden als skurril angesehen wird. Unter der Überschrift „Nicht Reanimieren“ verweigert der Unterzeichnende „unter allen Umständen jede Form von Reanimation“. Prompt erklärte die Ärztevereinigung KNMG, sich trotz aller Rechtsverbindlichkeit eigene Entscheidungen vorzubehalten. Es sei schließlich schwer, eine 25jährige mit Herzstillstand nicht zu behandeln. Zudem suche man im Notfall auch nicht zuerst nach solcherlei Dokumenten. Sicherheitshalber verschickt die NVVE deshalb auch Halsbänder, die auf den Todespaß verweisen.

Zwei Prozent der niederländischen Todesfälle gehen auf „Euthanasie“ zurück; vierzig Prozent auf eine „medizinische Entscheidung, den Tod zu beschleunigen“. Daß der Tod auf Verlangen kein Tabu mehr ist, hat jedoch nicht zur Offenlegung der Fälle geführt. Laut einer Untersuchung im Auftrag des Gesundheitsministeriums melden Ärzte sechs von zehn Fällen aus Angst vor Strafverfolgung nicht. Die anonyme Befragung von über neunhundert Medizinern ergab aber auch, daß die Ärzte „in den allermeisten Fällen äußerst umsichtig handeln“.

Die überwiegende Mehrheit der niederländischen Ärzte entspricht dem Todeswunsch der Patienten. Das macht es um so schwerer für diejenigen, die sich weigern, ein Euthanatikum zu verabreichen (etwa zwölf Prozent). Irgendwann, so fürchten viele, werde es ebenso unmöglich sein, einem Patienten die Giftspritze zu verweigern, wie es bereits heute undenkbar sei, keine Abtreibung vorzunehmen.

Ärzte, die aktive Sterbehilfe geleistet haben, schildern den Moment als schwierigsten ihres Lebens. „Ich wußte nicht, ob ich es würde tun können“, erzählt ein Amsterdamer Arzt, der einem aidskranken Freund eine tödliche Dosis verabreichte. Letztlich habe ihn sein „Realitätssinn“ dazu bewogen sowie die Tatsache, daß er es seinem Freund versprochen hatte. „Wenn jemand nicht die Energie oder den Glauben hat zu leben, können wir ihn nicht dazu verurteilen.“

Inzwischen hat sich selbst unter Geistlichen eine pragmatische Haltung breitgemacht. Pastor de Lagemaat von der Klinik der Freien Universität in Amsterdam ging gar in die Offensive gegen den Vatikan, als der 1993 die holländische Praxis mit der des Dritten Reiches verglich. „Angesichts der medizinischen Fortschritte reden wir oft gar nicht über die künstliche Beendigung eines Lebens, sondern über die Beendigung eines künstlich aufrechterhaltenen.“ Gerade von Seiten der Ethikexperten wird darauf verwiesen, daß die Niederländer das Gegenteil täten, als das Leben von Menschen geringzuschätzen: dem Leiden und dem Selbstbestimmungsrecht sensibel gegenüberzustehen.

All das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß diejenigen, die schon vor Jahrzehnten davor warnten, ein „Faß ohne Boden“ zu öffnen, recht behalten haben. Längst wird auch das Leben von schwerstbehinderten Säuglingen, chronisch Kranken und Komapatienten, von denen keine schriftliche Willenserklärung vorliegt, von ärztlicher Hand beendet. Etwa tausend Menschen werden jährlich getötet, ohne explizit darum gebeten zu haben.

Im vergangenen Jahr landete von zweitausend gemeldeten Euthanasiefällen gerade mal einer vor Gericht. Und der endete mit Freispruch. Der friesische Hausarzt Sippe Schat hatte keinen Kollegen zu Rate gezogen, als er seine 72jährige Krebspatientin tötete – eine schriftliche Einwilligung der Frau lag nicht vor. Das spektakulärste Urteil stammt aus dem Jahr 1995. Der Psychiater Boudewijn Chabot wurde in letzter Instanz freigesprochen, nachdem er einer körperlich gesunden, jedoch schwer depressiven Frau auf deren Wunsch einen Pudding mit tödlichem Gift verabreicht hatte. Seitdem gilt als geklärt, daß Ärzte grundsätzlich auch psychisch kranke Menschen töten dürfen.

Wo schon so viele Tabus gefallen sind, stehen weitere an. Seit dem vergangenen Jahr kämpft die Stiftung „Freiwillig Leben“ um das Recht auf Sterbehilfe für alle. Sie argumentiert, daß es ungerecht sei, Kranken zu helfen, aber gesunde Lebensmüde zum Weiterleben zu zwingen oder sie einen unwürdigen und gewaltsamen Tod sterben zu lassen. Jeannette Goddar

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