In Türkei verurteilter Mäzen Kavala: Widerstand wichtiger denn je
Mit der lebenslangen Haftstrafe für den Bürgerrechtler Kavala und andere versucht Präsident Erdoğan, der Opposition den finalen Schlag zu versetzen.
V iele hatten es befürchtet, als es dann aber tatsächlich passierte, war es doch wie ein Schlag in die Magengrube. Die Höchststrafen für den Istanbuler Kulturmäzen Osman Kavala und seine sieben Mitangeklagten aus der Istanbuler NGO-Szene sind ein neuer Tiefpunkt für die türkische Zivilgesellschaft, die Präsident Erdoğan unter Bruch des Rechts seit Jahren systematisch vernichten lässt.
Denn nichts anderes sind die Urteile von Montagabend als der Versuch der Vernichtung seiner politischen Gegner. Daran hat auch der Einspruch aus dem Ausland nichts geändert. Fast hat man den Eindruck, je nachdrücklicher sich Regierungen und internationale Organisationen für Osman Kavala und die anderen Gezi-Angeklagten eingesetzt haben, umso mehr war Erdoğan davon überzeugt, die Angeklagten hätten tatsächlich im ausländischen Auftrag 2013 einen Aufstand gegen ihn anzetteln sollen.
Ob dies taktisches Verhalten ist oder reine Paranoia, die durch den realen Putschversuch im Sommer 2016 noch einmal zusätzlich befeuert wurde, ist letztlich gleich. Erdoğan will sich von niemandem mehr stoppen lassen, von wachsweichen Ermahnungen aus Brüssel oder Berlin am allerwenigsten. Die ob seiner Politik immer zahlreicheren Erdoğan-KritikerInnen in der Türkei setzen deshalb jetzt ihre Hoffnungen ganz und gar auf die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr. Diese Hoffnung ist nicht unbegründet, denn angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Lage mit fast hundert Prozent Inflation sind die Umfragewerte für Erdoğan tatsächlich im Keller. Trotzdem wird es sehr schwer werden, den seit 20 Jahren regierenden Autokraten von der Macht zu entfernen.
Was Orbán in Ungarn vorgemacht hat, Kontrolle der Medien, manipulierte Wahlkreise, Verfolgung von Oppositionspolitikern durch die Justiz, hat Erdoğan längst perfektioniert. Trotzdem werden die türkischen DemokratInnen alles tun, um die letzte Chance zur Rettung ihrer Demokratie zu nutzen, bevor Erdoğan endgültig die letzten Reste eines pluralistischen Systems zerstört hat. Alles, was man jetzt von außen tun kann, um diesen Kampf zu unterstützen, sollte man tun.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr