In Mitte tragen viele Straßen Namen von bekannten Frauen: Straße frei für Frauen
Fallschirmspringerinnen und Quäkerinnen: In Mitte tragen jetzt viele Straßen den Namen mutiger Frauen. Aufgespürt werden sie von Volker Hobrack, dem Vorsitzenden der Straßenbenennungskommission Mitte.
Erna Samuel ist bedeutend genug für eine eigene Straße. Das beschloss vor wenigen Tagen die Straßenbenennungskommission der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Mitte. Voraussichtlich ab März - nach dem abschließenden Votum der BVV - wird die neue Stichstraße, die auf den einstigen Güterbahnhof Moabit zuführt, den Namen der jüdischen Lehrerin tragen. Die Abstimmung im kleinen Kreis ist auch eine Bestätigung dafür, dass Volker Hobrack gute Arbeit geleistet hat. Der 65-Jährige sitzt für die SPD in der BVV und ist Vorsitzender der Straßenbenennungskommission. Er sucht - und findet - Persönlichkeiten, die mit einer Straße oder einem Platz in Mitte geehrt werden.
Meist folgt Hobrack dabei den zahlreich eingehenden Vorschlägen von Bürgern. Manchmal, wie im Fall von Frau Samuel, geht er vom Ort aus und stößt dabei auf einen Namen, eine Biografie, die er so lange nachrecherchiert und historisch abklopft, bis er sie den BVV-Kollegen zur Abstimmung vorlegen kann.
Katharina Paulus (1868-1935): Die Geliebte des Ballonfahrers Julius Lattemann sprang 1893 als erste deutsche Frau mit einem Fallschirm ab. Als wagemutige "Miss Polly" tourte sie mit einer Solo-Show durch ganz Europa. Sie erfand den Doppelabsprung mit zwei Fallschirmen und stellte im Ersten Weltkrieg Ballone und Fallschirme für die Armee her. 1935 starb sie verarmt in Berlin. Noch heute wird ihre spezielle Kompaktfallschirm-Falttechnik genutzt. Ihre Straße verläuft südlich des Hauptbahnhofs.
Elisabeth Abegg (1882-1974): Die in Straßburg geborene Lehrerin unterrichtete ab 1924 am Luisenoberlyceum in Mitte. Von den Nazis wurde die bekennende Quäkerin und Widerständlerin in den Zwangsruhestand versetzt. Sie versteckte in ihrer Wohnung Juden und unterrichtete dort heimlich "halbjüdische" und "illegale" Kinder. Abegg selbst überlebte und starb 1974 in Berlin. Die nach ihr benannte Straße wurde 2006 eingeweiht.
Berta Benz (1849-1944): Um die Gattin des Automobilbauers Carl Benz ranken sich viele Gerüchte. Sie soll mit ihrem Strumpfband die Zündung geflickt und mit ihrem Geld und Geschäftssinn die Firma vor dem Bankrott bewahrt haben. Dass der patenten Badenerin, die nie in Berlin gelebt hat, ausgerechnet am Hauptbahnhof eine Straße gewidmet wurde, begründet die Straßenbenennungskommission mit ihrer Eigenschaft als "außergewöhnliche Frau".
Die neue Straße, die Erna Samuels Namen tragen soll, entstand durch die Erschließung des Gewerbegebiets zwischen Beusselstraße und Westhafen. Weil vom Moabiter Güterbahnhof, wo die neue Straße endet, mehr als 32.000 Berliner Juden in Vernichtungslager deportiert wurden, war für Hobrack klar: Für diese Straße kommt als Namensgeberin nur eine von dort Deportierte in Frage. Theoretisch hätte es auch ein Mann sein können. Aber ein BVV-Beschluss von 2004 legte fest, dass bei der Neubenennung von Straßen und Plätzen Frauen besondere Berücksichtigung finden sollen.
Theoretisch soll das so lange geschehen, bis ein Gleichstand zwischen den Geschlechtern bei Straßen- und Platznamen im Bezirk Mitte erreicht ist. Praktisch wird es dazu aber kaum kommen, sagt Hobrack: "In Mitte ist schon so gut wie alles benannt. So viele neue Straßen, dass es für ein paritätisches Geschlechterverhältnis reicht, kann es in Zukunft gar nicht geben."
In den vergangenen Jahren wurden vor allem um den Hauptbahnhof, das Holocaust-Mahnmal und den Nordbahnhof 34 Straßen nach Frauen benannt. Naturwissenschaftlerinnen sind darunter, Musikerinnen, Frauenrechtlerinnen und sogar eine Fallschirmspringerin. "Es gibt in der Geschichte viele tolle Frauen, die es verdienen, endlich bekannt zu werden", sagt Hobrack.
Manchmal finden Straße und Frau ganz einfach zueinander: Dass die vom Hauptbahnhof zur Charité führende Straße nach der Medizinerin Rahel Hirsch (1870-1953) benannt wurde, ging auf den Vorschlag einer Charité-Ärztin zurück. Der von den BVV-Richtlinien geforderte Bezug zu Berlin und dem Bezirk war gegeben: Hirsch forschte als eine der ersten Wissenschaftlerinnen 16 Jahre lang an der Charité und hatte eine Praxis am Kurfürstendamm. Auch andere Frauen, die sich, wie von der BVV gefordert, für die Stärkung der Demokratie, der humanistischen Gesinnung, der wissenschaftlich-technischen Entwicklung oder Frieden und Menschenrechte einsetzten, waren schnell gefunden.
Bei Erna Samuel aber gestaltete sich die Recherche außergewöhnlich schwierig. Bei Durchsicht der von den Nazis erstellten Transportlisten der Deportationszüge stieß Hobrack zwar auf zahlreiche Frauennamen. Doch Identität und Biografie der per Zug Verschleppten waren schwer nachzuvollziehen. Zudem gab es in Berlin noch eine Frau gleichen Namens, die aber ein völlig anderes Schicksal hatte. Gesichert war nur, dass die Lehrerin Erna Samuel Lehrerin am jüdischen Auerbachschen Waisenhaus in der Schönhauser Allee war. Dort wurden ab 1942 zwangsweise SchülerInnen und LehrerInnen der Jüdischen Schule in der Choriner Straße untergebracht, die sich ursprünglich einmal in der Rykestraße befunden hatte.
Erna Samuel war 47 Jahre alt und unverheiratet, als man sie zusammen mit anderen Berliner Juden am 29. November 1942 am Güterbahnhof Moabit in den Zug scheuchte. Dessen Ziel war Auschwitz. Wann genau Samuel dort umgebracht wurde, geht aus der Aktenlage nicht hervor.
Um an weitere Informationen zu kommen, suchte Hobrack nach verbliebenen Zeitzeugen und spürte schließlich in Stockholm einen ehemaligen Schüler Samuels auf. Der 85-jährige Walter Frankenstein schwärmt noch heute von einer außergewöhnlich warmherzigen und klugen Pädagogin. 1941 zum Beispiel sollte die Klasse einen Deutschaufsatz zum Thema "Angst" schreiben. Frankenstein gab nur einen Satz ab: "Ich habe in meinem Leben noch nie Angst gehabt." Erna Samuel gab ihm dafür ein "Genügend" - aus Respekt vor der Furchtlosigkeit des Jungen, dem es später gelang, unter abenteuerlichen Umständen aus Berlin zu fliehen. Wenn seine alte Lehrerin mit einer Straße geehrt wird, will Frankenstein unbedingt dabei sein.
Hobrack schildert das persönliche Treffen mit dem alten Herrn als "bewegend". Doch eine Zeitzeugenschaft allein genügt nicht: Bei allen Namensvorschlägen überprüft zusätzlich ein Historiker die Faktenlage. Hobrack gab dazu parallele Untersuchungen im Centrum Judaicum und dem Landesamt Potsdam in Auftrag. Erst als diese Belege für die Existenz und Vita Erna Samuels auftrieben, war die Straßenbenennung gesichtert.
Volker Hobrack wird stolz sein, wenn das Straßenschild mit Erna Samuels Namen montiert und die Straße in Sichtweite zum Deportationsmahnmal offiziell benannt wird. Die Straße bildet die Verlängerung der erst im Juni 2009 eingeweihten Ellen-Epstein-Straße. Die Musikerin und bildende Künstlerin wurde im Oktober 1942 gemeinsam mit ihrer Schwester vom Moabiter Güterbahnhof deportiert. Dass dort nun gleich zwei Frauenschicksale dem Vergessen entrissen worden, findet der passionierte Hobbyhistoriker gut. "Die Berliner haben viel zu wenig Geschichtsbewusstsein", findet er. Da sei es doch das Mindeste, dass sie wenigstens durch die Straßenschilder etwas über die Geschichte ihrer Stadt erführen.
Über die Frauen-Richtlinie ist Volker Hobrack aber alles andere als glücklich. Es ärgert ihn, dass er Männer, die ihm am Herzen liegen, links liegen lassen muss. Zum Beispiel den jüdischen Kunstmäzen James Simon (1851-1932), der die Nofretete nach Berlin holte. "Der hat mehr verdient als einen kleinen Anbau auf der Museumsinsel", findet Hobrack.
Auch Bernhard Weiß (1880-1951), der von 1927 bis 1932 Vizepolizeipräsident von Berlin war und sich entschlossen der NSDAP entgegenstellte, hätte er gern verewigt. "Aber die beiden sind keine Frauen und darum kriegen sie keine Straßen. Blöd ist das", schimpft Hobrack, nimmt sein Fahrrad und verschwindet dort, wo sich die Berta-Benz-Straße mit der Ella-Trebe-Straße kreuzt. Zum Glück begleiten seinen Heimweg auch noch Robert Koch und andere verdienstvolle Berliner männlichen Geschlechts.
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