In Memoriam Wolfgang Jorzik: Papa sterben verboten
Dass die eigene Welt aus den Fugen geraten kann, verdrängen die meisten – Wolfgang Jorzik und seiner Familie ist das passiert.
Die Einladung zum Gartenfest kommt Anfang Dezember. Ein nachmittägliches Winterfest wolle er feiern, schreibt Wolfgang. Schließlich habe das Sommerfest dieses Jahr nicht geklappt – und der nächste Sommer sei „noch verdammt lang hin“. Dann lieber gleich feiern, aber „nicht drinnen in der Comfort-Zone, sondern beinhart und stilecht im Gartenhaus und im Garten“. Wenn schon, denn schon.
Es ist ein Angebot, das man nicht ausschlagen kann: Dutzende Freunde, Bekannte, Kollegen und Nachbarn geben sich an diesem Adventssonntag die Klinke in die Hand. Viele haben ihre Kinder dabei, den ganzen Nachmittag über ist es ein einziges Kommen und Gehen. Herzlich fallen die Begrüßungen aus, herzlicher noch die Verabschiedungen. Es wird viel gelacht. Wolfgangs fröhliche braune Augen strahlen. Sein Gesicht ist viel präsenter als früher, als er noch das volle, grau gewordene Haar hatte. Auf dem kahlen Kopf trägt der 52-Jährige eine Mütze.
28. 2. 2014: Den Tod sehe ich nicht so tragisch, tragischer sind die Momente, die ich vermute zu verpassen: im Spiel mit den Kindern, im Zusammensein mit meiner Frau Louisa.*
Zehn Monate ist es her, dass das Leben von Wolfgang aus den Fugen geriet. Wortfindungsstörungen, Gleichgewichtsstörungen, ein zwanghaftes Rückwärtslesen von Wörtern gab es schon vorher – nur woran das lag, war ihm nicht klar. Es waren Zeichen, die er nicht zu deuten gewusst hatte. Dazu gehörte sein veränderter Fahrstil, der seine Frau plötzlich in Angst und Schrecken versetzte. Dabei war er doch stets ein äußerst zurückhaltender Autofahrer gewesen. Zu dieser Zeit habe sie in ihrem Mann „ungefähr dreißig Prozent des Menschen erkannt, den ich bis dahin kannte“, erzählt Louisa. Nur eine Erklärung dafür hatte sie nicht.
Wolfgang war schließlich alleine unterwegs an jenem 17. Februar, als es passierte. Er fuhr auf einen Parkplatz in Leverkusen. Einfach so. Von dort rief er Louisa an. Was er wollte, erschloss sich ihr nicht, er redete wirres Zeug. Aber er war nicht betrunken; er trank keinen Alkohol, wenn er Auto fuhr. Louisa alarmierte die Polizei. Die Beamten trafen auf einen Mann, der offensichtlich dringend Hilfe brauchte. Per Rettungswagen ließen sie ihn in eine Klinik bringen. Nach einer MRT des Kopfes und des Oberkörpers wussten die Ärzte, was mit Wolfgang los war. Er hat eine sehr aggressive Form von Lungenkrebs, Metastasen in der Leber und drei Tumore im Kopf – einen mit einem Durchmesser von fast vier Zentimetern im Stammhirn.
12. 3. 2014: Mir scheint ein Spontantod durch Infarkt oder einen Schlag härter für die Familie, die dann nur noch etwas Finales zur Kenntnis nehmen kann und den Bestatter holen muss. Eine zeitlich umrissene Prognose lässt zumindest noch Gestaltungsraum für die Zeit und auch für Widerstand.
Drei Wochen bleibt Wolfgang in der Klinik und wandert durch die Abteilungen – von der Neurologie in die Onkologie und zur Palliativmedizin, bei der es nicht mehr um Heilung, sondern nur noch um Linderung geht. Ohne Behandlung habe er noch drei Monate, sagen ihm die Ärzte. Sein Kopf wird bestrahlt. Die erste Chemotherapie folgt. Seine Freunde und Bekannten informiert er schriftlich darüber, was mit ihm geschehen ist: „Betreff: Streukrebswiese“. Er schreibt von „gemischten Aussichten: Lebensqualität lässt sich wohl verbessern, Lebensaussichten verlängern, aber eine dauerhafte Heilung gilt als unwahrscheinlich“. Seine Mail schließt mit den Worten: „Life will go on – with or without me.“
Kurz darauf beginnt er, in einem Blog seine Gedanken und Erlebnisse aufzuschreiben. „Cancer Corner“ nennt er seine in der Regel kurzen, beinahe stenographischen Aufzeichnungen, die auch dazu dienen sollen, seinen Freunden und Bekannten „die Chance zu geben, neue Infos zu bekommen, die ich ansonsten kräftemäßig zur Zeit nicht übermitteln kann, weil Reden doch anstrengt“. Eine solch „kleine Ecke für die Krankheit“ halte er „für ausreichend, weil ich nicht gleich einen prunkvollen Raum für sie schaffen will, weder virtuell noch im realen Leben“. Er ist gefasst, beobachtet interessiert, wie es mit ihm weitergeht. Wolfgang hofft nicht auf einen Wunderdoktor oder auf zweifelhafte Therapien. Er will seine Lage so realistisch wie möglich erfassen, um die vorhandenen Optionen sondieren zu können.
Wolfgang versucht mittels Visualisierung Zugang zu seiner neuen Wirklichkeit zu bekommen: „Seit ich um die Diagnose weiß, treibt mich die Frage um, ob es eine bildliche Darstellung der Krankheit gibt, die geeignet ist, Abwehr zu mobilisieren, so wie es die Religionen mit ihrer Ikonographie und Allegorien zu Sünden und Verfehlungen mit Abbildern des Bösen seit Jahrhunderten zum Machterhalt praktizieren.“ Er wird nicht fündig. Also malt er sich eigene Szenarien: „Eine purpurne Landschaft, in der die mutierten Zellen ihr Werk ausüben: Sie verwenden dazu langstielige Hellebarden, die scharf geschmiedete rasiermesserscharfe Klauen haben und deren Schneiden an ein ’U‘ erinnern und sich zum Bohren wie ins Fleisch schneiden gleichermaßen eignen.“ Kurz nachdem er aus der Klinik entlassen wurde, muss er wegen einer Atemwegsentzündung auch schon wieder ins Krankenhaus. Sein Immunsystem funktioniert nicht mehr.
14. 3. 2014: Nun scheint offenbar die Zeit zu kommen, in der die Haare ausfallen wollen/sollen/müssen. Das erste Büschel hatte ich gestern bereits zwischen den Fingern. Ein wenig wie die Frühlingsschur der Schafe.
Mitte Mai ist ein Treffen mit ihm wieder möglich. Zu einem Kaffee in Wolfgangs Haus im rechtsrheinischen Stadtteil Höhenhaus. „Denn unsere Kölschverabredung ist für mich erst mal in weite Ferne gerückt, aber ein Stündchen am Küchentisch plaudern sollte gehen“, schreibt er.
Es ist schön, ihn wiederzusehen. Aber es ist auch schwer. Wie geht man mit einem Todkranken um? Wolfgang ist von der Chemotherapie geschwächt. Er hat stark abgenommen. An die Glatze muss man sich erst gewöhnen, aber sie steht ihm gut. Seine markante Stimme ist schwächer geworden, brüchig. Aber sein Sprachwitz ist geblieben, die feine Ironie. Auch der rheinische Singsang ist immer noch da.
Was ihn beschäftigt, ist der Behördenwahnsinn, mit dem er sich als Todkranker auseinandersetzen muss. „Die Sanduhr läuft, und du musst viel Zeit in Anträge und Formulare stecken“, sagt Wolfgang. Dabei ist Zeit das Kostbarste, das er hat.
Darüber hat er einen Text geschrieben. Unfassbar sachlich – dabei hätte er alles Recht der Welt dazu, in Rage zu geraten. Knapp eine Woche nach der Begegnung erscheint sein eindringliches Plädoyer „für eine neue Verwaltungsethik, für Menschlichkeit bei bürokratischen Vorgängen im Angesicht des Todes“ in der taz. Der Titel: „ ICD-10-GM-2014 C34.9“ – das ist sein Diagnoseschlüssel. Der Text findet im Internet rasche Verbreitung. Wolfgang erhält viel Zuspruch. „Trotz des Ernstes der Lage klingt für mich in Ihren Zeilen viel Mut und Ermutigung durch. Manchmal so viel, dass ich mich frage, wo Sie bloß mit Wut, Trauer und Verzweiflung bleiben. Ich hoffe, auch dafür gibt es einen Platz“, schreibt ihm ein Arzt.
26. 5. 2014: „Papa sterben verboten.“ Lachend gaben mir die Kinder vor ihrem Weg zum Kindergarten diese klare Botschaft mit ins Krankenhaus, damit der Doktor wirklich Bescheid weiß.
Die erste Begegnung mit Wolfgang war irgendwann in der zweiten Hälfte der 90er Jahre. Er war damals Redakteur der legendären Initiativenzeitschrift Kölner Volksblatt. Nach dem Abitur 1982 hatte er ursprünglich Germanistik und Pädagogik an der Kölner Uni studiert, machte dann dies und das: Er malte, übte sich in druckgraphischen Techniken und im Buchdruck, fotografierte, organisierte Ausstellungen. Dann wurde er Journalist. Als das ursprünglich in den siebziger Jahren als „Selbsthilfeprojekt der sozialen Bewegungen“ gegründete Volksblatt 1999 für eine D-Mark von der traditionssozialistischen Berliner Tageszeitung junge Welt übernommen und in Kölner Woche umbenannt wurde, avancierte Wolfgang zum Chefredakteur.
Richtig zusammen passte das nicht. Denn der undogmatische linke Kölner hatte so gar nichts mit den Dogmatikern des ehemaligen FDJ-Zentralorgans gemein. Auch nachdem die junge Welt nach zehn Monaten das Interesse an ihrem kölschen Ableger verloren hatte, blieb er Chefredakteur. Doch der Versuch, wieder auf eigenen Beinen zu stehen, funktionierte nicht lange. 2001 heuerte Wolfgang beim WDR als sogenannter fester freier Journalist an.
Seine Frau Louisa arbeitet für die Deutsche Welle. Wolfgang hatte die US-Amerikanerin vor zwanzig Jahren kennen gelernt. Ein Jahr später heirateten sie. Ihre erste gemeinsame Wohnung hatten sie in Sülz, in der Nähe der Kölner Uni. Hier bekamen sie im Juni 2008 ihre Zwillinge Ella und Nick. Dann kauften sie sich ein Haus auf der „Schäl Sick“. Über viele, viele Monate haben sie es mühevoll zu einem schönen, hellen Nest für ihre Kinder und sich umgebaut.
Gerade als das Haus Heim geworden war und die Kinder vor der Einschulung standen, kam der Krebs. Neben den großen Sorgen, die sich Louisa um ihren schwerkranken Mann und die Kinder macht, steht sie unter enormem ökonomischem Druck. Alle finanziellen Reserven der beiden sind in das Einfamilienhaus geflossen. „Werden wir hier noch wohnen bleiben können?“, fragt sich Louisa.
4. 6. 2014: Gute Nachrichten: Die Tumore im Kopf sind signifikant geschrumpft. Die Strahlentherapie hat gut angeschlagen, so die Radiologin. Große Erleichterung bei allen zu Hause.
Noch bekommt Wolfgang Krankengeld, 1.100 Euro im Monat. Doch wie lange noch? Die Kasse zahlt maximal 78 Wochen. So steht es im Sozialgesetzbuch. „Vielleicht genügend Zeit, ohne allzu großen finanziellen Druck das eigene Leben und das der Familie in ruhigere Bahnen zu bringen – auch wenn die Krebsstatistik für mich den August 2015 für kaum erreichbar hält“, schreibt Wolfgang. Aber die Krankenkasse will nicht so lange warten. Sie will, dass er einen Rentenantrag stellt. Das ist billiger für sie.
„Ihre Rentenversicherung hat Ihnen geschrieben. Haben Sie sich schon entschieden?“, fragt Mitte November die zuständige Sachbearbeiterin am Telefon. „Nein, noch nicht, weil ich einen Rückfall habe und zusätzlich neue Metastasen in der unteren Wirbelsäule entdeckt wurden“, antwortet Wolfgang. Doch das interessiert die Kasse nicht. Er habe gar keine Wahl mehr, ob ein Rentenantrag gestellt wird oder nicht, heißt es. Wolfgang konsultiert zwei Rechtsanwälte. Nichts zu machen. Die Krankenkasse darf das. Sie darf ihm damit drohen, die Zahlung des Krankengelds einzustellen, wenn er nicht wie gewünscht einen Antrag auf Rente stellt. „Sie sind nur ein Vorgang, der abgearbeitet wird“, sagt einer seiner beiden juristischen Berater. Die Rente, die Wolfgang wahrscheinlich bekommen wird, liegt bei etwa 300 Euro. Neun Tage nachdem er den Antrag abgegeben hat, stellen die Onkologen weitere Metastasen im Gehirn fest.
6. 11. 2014: Zweite Chemotherapie, zweiter Kurs. Ich hänge in den Seilen. Immerhin habe ich meine Frau zum Lachen gebracht, als ich die Treppe auf allen vieren wie ein komischer Hund hochgetapst bin. Sie sagte, sie habe die Wahl zwischen Weinen und Lachen gehabt und sich fürs Lachen entschieden. DANKE!
Als Wolfgang im Frühjahr seine Diagnose erhielt, war eine seiner größten Sorgen, die Einschulung seiner Kinder im Sommer nicht mehr miterleben zu können. Er hat sie erlebt. Louisa und er sind von Anfang an ehrlich mit ihren Kindern umgegangen. Das war nicht einfach. Die beiden haben sich viele Gedanken gemacht. Wie verkraften zwei Sechsjährige diese traurige Wahrheit? Wolfgang und Louisa holten sich professionellen Rat und Hilfe, um den Zwillingen zu erklären, was mit ihrem Vater los ist. Das hat gut geklappt. Die Pädagogin, die den Kindern beistehen sollte, stellte ihre Arbeit rasch ein. Ihnen gehe es gut, die Eltern würden genau richtig mit ihnen umgehen, sagte sie.
Nach außen hin versucht Wolfgang, möglichst gelassen mit seiner Krankheit zu sein. Was seinem Naturell entspricht: Er hatte schon immer etwas Stoisches. „Ich habe immer seine ruhige – manchmal mich zum Wahnsinn treibende – Art bewundert“, sagt Louisa. Seit dem Tag, als er ins Krankenhaus musste, stellt sie sich die Frage, „wie etwas so Bösartiges einem so gutartigen Menschen passieren kann“. Eine Antwort hat sie nicht gefunden. Wie auch? Louisa ist verzweifelt. Trotzdem sagt sie: „Gerade wenn gar nichts mehr geht, muss man kämpfen.“
Zu dem Gartenfest am Adventssamstag gab es zwei Einladungen: eine von Wolfgang und eine von Louisa, „da eine lustig ist und die andere einen persönlichen Eindruck von diesem Jahr wiedergibt“, wie die beiden formulieren. Louisa hat unter ihr Schreiben eine Anmerkung gesetzt, warum die Feier noch in diesem Jahr stattfinden musste: „Ich sehe Veränderungen in Wolfgangs Verhalten in den letzten Tagen, sei es durch Kortison, das er seit Abbruch der Chemotherapie schlucken muss, sei es das erneute Wachstum im Gehirnbereich, der für die Persönlichkeit zuständig ist.“ Er bewege sich langsamer und unbalancierter, wirke manisch und zugleich abwesend. Vor allem habe er einen wilden Blick in den Augen gehabt: wie ein Tier, das gleich auf seine Beute springen will.
5. 12. 2014: bad news: Chemotherapie wurde heute vorzeitig abgebrochen. Grund: Obwohl Topotecan auch Metastasen im Hirn verkleinern soll, gibt es stattdessen neue Metastasen im Schädel, und die älteren sind größer geworden. Ob es jetzt mit großen Schritten dem Austherapiert-Sein entgegengehe, wollte ich von der Onkologin wissen. Sie bejahte.
Vor der dekorierten Hütte im Garten spielt ein Freund Akkordeon, ein anderer Gitarre; Weihnachtslieder. Wolfgang und Louisa stehen unter dem kleinen Vordach. Etwas entfernt brennt trotzig ein Feuer in einer Metallschale, Kinder spielen Fußball. Wolfgang lächelt. Er hebt die Arme, um die vielen Umstehenden zum Singen zu ermuntern. Manche singen, manche kämpfen mit ihren feuchten Augen. Wolfgang kann nicht mitsingen, wegen einer halbseitigen Kehlkopflähmung kann er nur noch flüstern. Dafür fotografiert er viel an diesem Tag. Fotografieren ist seine Leidenschaft. Aber vor allem will er den Augenblick festhalten. Es könnte schließlich das letzte Fest sein, das er zusammen mit seinen Freunden feiern kann.
Seine verzweifelte Hoffnung, noch etwas Zeit zu gewinnen, hat Wolfgang trotzdem nicht aufgegeben. Ein paar Wochen? Einen Monat? Mehrere Monate? In seinem bislang letzten Blogeintrag schreibt er:
11. 12. 2014: Es bleibt verworren. Gestern sagten die Onkologen, es gebe noch eine dritte Möglichkeit der Chemotherapie, die aber wegen der Nebenwirkungen nicht gerne verabreicht werde. Aber auch eine weitere Strahlentherapie könnte eine Möglichkeit sein. Fazit: Aufgrund meiner halbwegs körperlich guten Verfassung und meines Alters trauen sich die Ärzte noch mal einen Versuch.
Wolfgang Jorzik ist Dienstag, den 27. Januar, am Vormittag gestorben.
Der Text erschien zuerst in der Weihnachtsausgabe 2014 der taz. Alle kursiven Zitate stammen aus Wolfgang Jorziks Blog „Cancer Corner“: www.wolfgangjorzik.com
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