In Indonesien und Malaysia setzen sich islamistische Strömungen durch. Sie zu integrieren ist die wichtigste Aufgabe in der Region: Die Macht des Islam
Für viele Beobachter war die Wahl Abdurrahman Wahids, des Führers der größten muslimischen Organisation Indonesiens, zum Präsidenten des Landes überraschend. Diese radikale Wendung der indonesischen Politik zu erklären fällt Experten schwer. Schließlich hatte Indonesiens Regierung seit Jahren immer wieder versucht, islamistischen Organisationen und Parteien den Auftritt auf der politischen Bühne zu verwehren. Wenn sich islamische Gruppen für die Armen und Unterdrückten einsetzten, reagierte das Militär mit Gewalt, um die so genannte Bedrohung durch Gruppen des politischen Islam im Zaum zu halten.
Doch die Entwicklung war für diejenigen vorauszusehen, die islamistische Strömungen in Indonesien über einen längeren Zeitraum verfolgt hatten: Ende der 80er-Jahre hatte die indonesische Elite begonnen, sich der veränderten Stimmung der Bevölkerung anzupassen. So pilgerte zum Beispiel Präsident Suharto 1991 nach Mekka, und die Regierung ließ islamische Organisationen und Forschungszentren gründen und begann, islamische Intellektuelle zu hofieren. Seit dem Bruch zwischen Amien Rais’ islamischer Bewegung Muhammadjiah und Suhartos Regierung 1998 bestand kein Zweifel mehr: Der Konsens zwischen Regierung und islamischen Gruppen war gebrochen.
Im benachbarten Malaysia scheint sich heute ein ähnliches Szenario zu entwickeln. Nach Jahrzehnten ungebrochener Macht steckt die Regierungskoalition der Nationalen Front unter Führung der konservativen United Malays National Organisation (Umno) in einer schweren Krise. Bei den Parlamentswahlen am 29. November konnte sie zwar ihre beherrschende Stellung behaupten, verlor jedoch Mandate an die Opposition. Die meisten Gewinne erzielte die islamistische PAS. Seit den 50er-Jahren versucht die PAS, der Umno ihre muslimischen Wähler streitig zu machen. Die Ausbreitung der PAS im Norden des Landes könnte dazu führen, dass sich Malaysia in zwei soziokulturelle politische Lager spaltet. Der Norden wird von ländlich geprägten malaysischen Islamisten dominiert, während der höher entwickelte reichere Süden und die Westküste Domänen konservativer Malaysier und nichtmalaysischer Bevölkerungsgruppen bleiben.
Doch warum haben die Regierungsparteien und insbesondere die Umno Stimmen an die Islamisten verloren? Ein Vergleich Malaysias mit Indonesien wäre unfair, weil beide Länder buchstäblich Welten auseinander liegen. Malaysias politisches System war schon immer eine konstitutionelle Demokratie, wenngleich mit stark autoritärer Führung. Indonesien dagegen gab sein demokratisches Experiment bereits in den 50er-Jahren auf, als Sukarno es für unbrauchbar erklärte. Indonesien wurde seitdem von einem Gemisch aus militärischer Elite, Geschäftsleuten und feudalen Würdenträgern regiert. Die Menschenrechte wurden in Malaysia wesentlich stärker beachtet als in Indonesien, wo die Armee bisher praktisch fast alle öffentlichen Dienstleistungen kontrolliert.
In mehreren Punkten irrten sich allerdings die malaysische wie auch die indonesische Elite: So blieben beide Staaten überwiegend islamische Länder: 60 Prozent der Malaysier sind Muslime, und 90 Prozent der Indonesier. Die Regierungen beider Staaten respektierten die Macht muslimischer Interessen. Später versuchten sie den Islam zu reglementieren, indem sie ihn als Bedrohung ihres politischen und wirtschaftlichen Lebensstils verurteilten. Die indonesischen und malaysischen Eliten taten islamistische Bewegungen als rückständige Phänomene von Dorfgeistlichen und der Landbevölkerung ab. Je mehr Einfluss die islamistischen Parteien gewannen, desto stärker versuchten die Regierungen beider Länder, sie in ihre Machtstrukturen einzubinden. Doch da waren die Islamisten schon in fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens vorgedrungen. Der Islam begann Einfluss auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zu nehmen. Suhartos Kooptierung des Islam konnte nicht verhindern, dass ihm die islamistischen Gruppen 1997/98 ihre Sympathie aufkündigten.
Die Regierenden glaubten eine passive und gehorsame Wählerschaft vor sich zu haben. Sie meinten ihr die eigenen islamischen Theorien vermitteln zu können. Mit dem Machtantritt von Mahathir startete Malaysia seit den 80er-Jahren den Versuch, die eigene Version eines „offiziellen Islam“ zu verbreiten. Mahathirs persönliche Auslegung eines progressiven Islam erscheint den meisten als vernünftig und wird von vielen Malaysiern angenommen. In anderen islamisch geprägten Ländern sprach sich Mahathir offen gegen Fanatismus und Intoleranz aus und rief Malaysias Muslime zur Offenheit auf. Er kritisierte die Islamisten besonders unter den jungen Malaysiern wegen ihrer selbstgerechten Politik und ihrer engstirnigen, fatalistischen Interpretation des Islam.
Zum Leidwesen der malaysischen Regierung entzieht sich der islamische Diskurs ihrer Kontrolle. Der Regierung ist es nicht gelungen, mittels spezieller islamischer Universitäten, Forschungszentren und staatlicher Einrichtungen einen Islam moderner, progressiver Prägung durchzusetzen. Der Golfkrieg, die fortgesetzten Unruhen in Palästina und das Aufkommen extremistischer Gruppen in der arabischen Welt ließen einen neuen, stärker politisierten islamistischen Diskurs entstehen, der ein Eigenleben außerhalb staatlicher Kontrolle entwickelte.
Die wirtschaftliche und politische Krise, die 1997 in Malaysia und Indonesien begann, wurde nach islamistischen Kategorien interpretiert und in einen religiösen Kampf gegen die politischen Führungen beider Länder umgewandelt. Es ist eine Ironie, dass die jüngeren Islamisten Mahathir nun vorwerfen, „weltlich“ und „unislamisch“ zu sein, obwohl er in Malaysia als Erster ein Programm zur Islamisierung einführte. Durch Verbreitung dieses populären islamistischen Diskurses wird der Boden bereitet für politische Kämpfe, Fronten und Identitäten.
Indonesien und Malaysia zeigen, dass Kooptierung und Konfrontation der islamischen Opposition so lange nicht funktionieren werden, als die ihr zu Grunde liegenden politischen und wirtschaftlichen Probleme nicht gelöst sind. Der Erfolg der islamistischen Oppositionsbewegungen liest sich wie eine Liste der Verfehlungen der Macht habenden Regime. Der Islam ist jetzt fest auf der politischen Landkarte verankert und eine der wichtigsten und am wenigsten vorherzusagenden Variablen. Nur wenn der Islam in beiden Ländern als wichtige gesellschaftliche Strömung wahrgenommen wird, kann der nötige Raum für Demokratie und Zivilgesellschaft geschaffen werden.
Farish A. Noor Übersetzung: Lena Kuder
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