In Indien unterwegs: Auf den Spuren des Erleuchteten
Eine aufwühlende Reise zu den heiligen Stätten des Buddhismus. Hitze, Menschenmassen, ohrenbetäubender Verkehr, die Kühe, Affen und Ratten.
Am Ende der Reise stehe ich unter dem Bodhibaum, stehe ich unter jenem Baum, unter dem Buddha vor 2.500 Jahren seine Erleuchtung fand und muss an Sex denken. Aber langsam. Das ist ja das Ende der Reise. Am Anfang der Reise stehe ich wo ganz anders, am Anfang der Reise stehe ich vor dem Fünf-Sterne-Hotel Ashoka in Neu-Delhi und rauche.
Es ist sehr heiß, eigentlich ein wunderschöner Sommertag. Aber der Himmel über der 15-Millionen-Metropole ist grau und das Licht in der Stadt trübe und verdreckt. Smog, Feinstaub, Abgase: Neu-Delhi ist eine der schmutzigsten Städte der Welt. Ein Stunde Atmen in Neu-Delhi, hat ein Wissenschaftler errechnet, entspricht der Belastung von zwei Zigaretten. Ich habe also, ohne zu rauchen, bereits zwei Zigaretten geraucht. Hinzu kommen jetzt noch die Zigaretten, die ich tatsächlich rauche. Ich stehe also gewissermaßen doppelt rauchend vor dem Hotel und beobachte, wie die Mönche kommen.
Die indische Regierung hat 270 Menschen aus aller Welt zu einer Reise eingeladen. Siddhartha Gautama, der Königssohn, der später zum Buddha wurde, hat 500 v. Christus in Nordindien gelebt. In seinem 35. Lebensjahr fand er in Bodhgaya unter einem Baum die Erleuchtung und begründete eine Weltreligion. Wir sind hier, um die Orte, an denen Buddha gewirkt hat, zu besichtigen. Wir, das sind 158 buddhistische Mönche, 65 Reiseveranstalter und 47 Journalisten.
Anbetung eines Knochenfragments
Im Hotelgarten stehen prächtige Königspalmen, ein paar Schwarzmilane kreisen am smogverseuchten Himmel, auf der Mauer vor mir landet ein Vogel mit einem gelben Augenring und aus den Kleinbussen steigen die Mönche mit ihren grauen, roten, gelben und orangefarbenen Gewändern. Die Mönche lachen und fotografieren sich mit ihren Smartphones vor dem Fünf-Sterne-Hotel. Die Mönche, die Smartphones und die fünf Sterne, denke ich, passen irgendwie nicht zusammen. Dann rauche ich noch eine Zigarette und denke, dass ich nicht so viel rauchen und weniger denken sollte.
Die Veranstalter haben eine kleine Stadtbesichtigung für uns organisiert. Wir fahren mit mehreren Bussen durch Neu-Delhi, sehen das Qutb Minar, ein riesiges Minarett aus rotem Sandstein, das Ende des 12. Jahrhunderts erbaut wurde und als eines der frühesten Meisterwerke der indoislamischen Architektur gilt. Die zweite Station ist das Humayun-Mausoleum, die prächtige Begräbnisstätte eines Moguls aus dem 16. Jahrhundert.
Dann fahren wir noch zum Nationalmuseum, weil es dort ein kleines goldenes Gefäß gibt, indem sich vier Knochenfragmente von Buddha befinden. Als wir den Raum mit Buddhas Knochen betreten, werfen sich alle Mönche sofort auf den Boden und singen ihre heiligen Mantras. Der Gesang der Mönche ist schön. Aber irgendwie finde ich es auch befremdlich, dass 158 Männer in einem Museum Knochenfragmente anbeten.
Man hat uns nur Neu-Delhi, jene kleine Oase im Süden der 15-Millionen-Metropole gezeigt, die Anfang des 20. Jahrhunderts von den Briten als neuer Regierungssitz erbaut wurde. Die Boulevards in Neu-Delhi sind mehrspurig, es gibt prächtige Parks, ein wunderschönes Diplomatenviertel und tolle Regierungsgebäude. Ist ja alles gut und schön, denke ich mir, hat aber irgendwie nichts mit dem wahren und authentischen Indien zu tun. Ich lasse das Abendessen ausfallen und fahre mit der U-Bahn nach Old Delhi.
Die Menschen quetschen sich in die überfüllten Waggons hinein. Neben mir stehen nur Männer und starren mich mit ihren tiefdunklen Augen an. Ich schwitze und versuche das Angestarrtwerden zu ignorieren. Nach einer halben Stunden erreichen wir endlich Old Delhi. Am Ausgang der Station ist es dreckig und es stinkt und überall liegen Obdachlose. Die engen Gassen von Old Delhi sind nur spärlich beleuchtet. Der Verkehr ist ohrenbetäubend und wild. Auf den Gehwegen liegen Tausende von Menschen unter freiem Himmel. Hinduistische Tempel leuchten, alle paar Meter sieht man Polizisten mit langen Schlagstöcken, Kinder und Krüppel umlagern mich. Sie betteln, wollen Geld, begrapschen mich. Ich sehe keine Frauen. Wo zum Teufel sind die Frauen?
Junge Männer verfolgen mich
Es ist heiß, es stinkt, eine Gruppe junger Männer verfolgt mich. Ich fühle mich nicht wohl, kann die Lage nicht einschätzen, bekomme es ein wenig mit der Angst zu tun. Mit einem Tuk-Tuk, einer dreirädrigen Mopedrikscha, fahre ich zurück ins Hotel. Indien, hat ein Freund vor meiner Reise gesagt, ist immer direkt in deinem Gesicht. Indien, hat er gesagt, bombardiert dich mit Bildern, die du erst mal nicht verarbeiten kannst. Ich fange an, zu verstehen, was er damit gemeint hat.
Am nächsten Morgen fliegen wir ins 780 Kilometer entfernte Varanasi im Bundesstaat Uttar Pradesh. Unser eigentliches Ziel ist Sarnath, ein kleiner Ort 13 Kilometer außerhalb von Varanasi. Nachdem Buddha unter dem Bodhibaum seine Erleuchtung fand, so besagt es jedenfalls die Legende, begab er sich zu Fuß nach Sarnath, um dort seine ehemaligen fünf Weggefährten aus den Jahren der strengen Askese wiederzutreffen. Im Wildpark zu Sarnath predigte er vor ihnen dann zum ersten Mal die sogenannten Vier Edlen Wahrheiten und erschuf damit den Buddhismus.
Laxmi-Narayan-Tempel: Prächtiger Hindu-Tempel im Zentrum der Stadt. Wundern Sie sich bitte nicht über die vielen Swastika-Symbole am Gebäude. Die Swastika ist im Hinduismus unter anderem ein Symbol für Glück.
Varanasi: Eine Bootsfahrt auf dem Ganges bei Sonnenaufgang entlang der Altstadtufer. Imposant. Atemberaubend. Erschreckend. Falls Sie Pech haben, sehen Sie einzelne Leichenteile auf dem Wasser schwimmen.
Bodhgaya: Die 25 Meter hohe Buddhastatue in der Nähe des Bodhibaumes, die 1989 vom Dalai Lama enthüllt wurde. Im Angesicht des riesigen Buddhas kann man sich ganz wunderbar klein fühlen.
In Sarnath gibt es mehrere buddhistische Tempel, zwei antike Stupas, zahlreiche Klosterruinen und ein archäologisches Museum. Genau dort, wo heute der 43 Meter hohe Dhamek-Stupa steht, soll Buddha seine erste Lehrrede gehalten haben. Unsere Mönche knien nieder und rezitieren im Singsang ihre heiligen Mantras. Danach umrunden wir alle gemeinsam mit den Mönchen dreimal den Stupa im Uhrzeigersinn. Die tiefe Spiritualität ihrer Gesänge an diesem für sie heiligen Ort beeindruckt mich zutiefst. Es ist ein schöner, ein wahrhaftiger, ein transzendentaler Gesang, ein Gesang, der unter meine Haut kriecht und fragend an die Türen meiner spirituellen Obdachlosigkeit klopft.
Durch den Abfall der Großstadt
Während sich alle anderen den Rest des Tages die archäologischen Ausgrabungsstätten von Sarnath anschauen, haue ich mal wieder ab. Von einem Tuk-Tuk-Fahrer lasse ich mich nach Varanasi, lasse ich mich in eine der heiligsten Städte des Hinduismus fahren. Varanasi hat 1,2 Millionen Einwohner, liegt am Ganges und gilt als älteste durchweg bewohnte Stadt der Welt. Mark Twain hat einmal Folgendes über die Stadt geschrieben: „Varanasi is older than history, older than tradition, older even than legend, and looks twice as old as all of them put together.“
Es ist heiß, es ist stickig, man kommt nur ruckweise im lärmenden Stau der Straßen voran. Irgendwann geht es nur noch zu Fuß weiter. Ich laufe Richtung Ghats, das sind die über 80 unterschiedlichen Ufertreppen von Varanasi, die hinunter zum Ganges führen. In den engen Altstadtgassen stehen unzählige hinduistische Tempel. Die Menschen beten. Vor den Tempeln betteln Kinder, Alte und Kranke um ein Almosen. In den Gassen stehen an jeder Ecke Kühe und fressen sich durch den Abfall der Großstadt. Die Straßen sind dreckig und schlammig, sind voller Kuhscheiße und übersät mit ausgespuckten Betelnussüberresten. Auf den Dächern und Balkonen springen Affen herum und ab und zu kreuzt ein mit Haschisch zugedröhnter tanzender Sadhu, eine Art hinduistischer Mönch, meinen Weg.
Ich erreiche meinen ersten Ghat: Auf Holzstapeln werden Leichname verbrannt. Die Angehörigen der Toten singen abwechselnd Lieder oder reinigen sich im Ganges. Varanasi ist die Stadt des Gottes Shiva. Die Hindus glauben, dass Shiva, wenn man in Varanasi stirbt, die Seele direkt ins Moksha führt. Moksha bedeutet die Befreiung aus dem ewigen Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt. Varanasi ist die Stadt des Todes. Hierher kommen die Menschen, um zu sterben. Ich stehe etwas abseits. Es stinkt nach verbranntem Menschenfleisch.
Am Ende wird die Asche in den Ganges gestreut. Kinder, schwangere Frauen oder hinduistische Priester dürfen nicht verbrannt werden. Ihr Leichnam wird mit einem schweren Stein direkt in den Ganges geworfen, was zur Folge hat, dass einzelne Leichenteile im Fluss herumschwimmen. Der Ganges ist laut Wissenschaftlern einer der schmutzigsten Flüsse der Welt. Ich stehe da und sehe, wie sie im verseuchten Fluss baden, weil sie denken, dass sie durch das heilige Wasser des Ganges von ihren Sünden gereinigt werden. Ich stehe da und kann den Geruch nach verbranntem Menschenfleisch nicht mehr ertragen.
Erlebnisstau
Ich laufe weiter durch die Altstadtgassen, hinduistische und muslimische Viertel wechseln sich ab. Plötzlich werden die Bärte länger, die Blicke strenger und der Muezzin ruft zum Gebet. Dann wieder die bunten Saris und die Tempel von Shiva, Vishnu und KDurch den Abfall der Großstadtrishna. An den Kreuzungen fahren Busse, Autos, Mopeds und Rikschas planlos aufeinander zu und hupen. Mittendrin in diesem Verkehrschaos liegen unbeeindruckt all die Kühe. Ich gehe zu den verschiedenen Ghats: Wäsche wird gewaschen, Köpfe tauchen unter, es wird gebettelt, verbrannt und gebetet.
Die Hitze, die Menschenmassen, der ohrenbetäubende Verkehr, die Kühe, Affen und Ratten, all die Tempel, Gebete, brennenden Leichname und bettelnden Kinder überfordern mich maßlos. Es ist, als ob man sich durch ein viel zu schnell geschnittenes Musikvideo hindurch bewegen würde. Mir wird schwindelig. Mit einem Tuk-Tuk fahre ich zurück zum Hotel.
Normalerweise versuche ich auf Reisen nachts die Erlebnisse des Tages zu reflektieren und einzuordnen. In Indien gelingt es mir nicht. Es sind einfach zu viele Bilder. Ich dusche und versuche an nichts zu denken. Als ich aus dem Bad komme, merke ich, dass ich beobachtet werde. In dem Baum vor meinem Hotelfenster sitzt eine Affenmutter mit ihren zwei Affenkindern. Sie starren mich durch die Glasscheibe an. Ich muss an die Worte meines Freundes denken: „Indien ist immer mitten in deinem Gesicht.“ Ich gehe zum Fenster, ziehe die Gardinen zu, schalte den Fernseher ein, schlafe.
Wir fliegen in den Bundesstaat Bihar, fahren danach mit dem Bus stundenlang durch eine traumhaft schöne Landschaft mit Palmen und Reisfeldern. In der Zeitung lese ich, dass der Sohn eines sehr einflussreichen Mannes von dem Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen wurde. Das Opfer und dessen Familie fürchten sich nunmehr davor, von der einflussreichen Familie des vermeintlichen Täters getötet zu werden. Der Polizeipräsident sagt in dem Artikel, dass sieben Polizisten das Haus des Opfers rund um die Uhr bewachen würden. In einem Leitartikel steht, dass man den Kampf gegen sexualisierte Gewalt in Indien nur durch mehr Wohlstand, Bildung und Aufklärung gewinnen könne. Während ich dies lese, fahren wir durch völlig verarmte und verdreckte Dörfer. Schmutzige Kinder in Lumpen winken uns fröhlich zu.
Wir besuchen Rajgir und Nalanda, zwei kleine Städte, in denen Buddha mal gelebt hat. Die Mönche singen wieder und fangen an, mich zu nerven. Sobald wir die heiligen Stätten verlassen, tippen sie irgendetwas in ihre Smartphones ein oder glotzen geistesabwesend auf ihre Tablet-Computer. Die 2.0-Mönche sind süchtig nach ihren Smartphones, sie kommen mir teilweise profaner als unsere Kids in Berlin vor.
Unhöfliche Mönche
Darüber hinaus drängeln sie sich beim Buffet vor, schieben einen mit den Ellbogen zur Seite und schaufeln sich einen berghohen Curry-Teller nach dem anderen rein. Ich dachte immer, dass buddhistische Mönche höflich, bescheiden, nachdenklich, liebevoll und demütig sind. Mit dieser Einschätzung lag ich wohl daneben, denke ich und gehe eine rauchen.
Die letzte Station unserer Reise führt uns nach Bodhgaya. In Bodhgaya steht der Bodhibaum, jene Pappelfeige, unter der Siddharta Gautama der Überlieferung nach im Jahr 534 v. Chr. seine Erleuchtung fand und zum Buddha wurde. Als historisch belegt gilt der Ort, die Gelehrten streiten sich jedoch darüber, ob dieser Bodhibaum tatsächlich ein Nachfahre des ursprünglichen Baumes ist. Denn jener Baum, unter dem Buddha sein Erleuchtung fand, wurde im Verlauf der Jahrtausende mehrfach von hinduistischen Herrschern zerstört. Der Legende nach soll jedoch über verschlungene Pfade ein Ableger des Urbaumes wieder an seinen ursprünglichen Ort in Bodhgaya eingepflanzt worden sein.
Ob nun Urururenkel oder nicht: Der heutige Bodhibaum sieht mit seinen weit verzweigten prächtigen Ästen wie ein würdiger Vertreter des ursprünglichen Bodhibaumes aus. Ich stehe unter dem Baum und beobachte, wie unsere Mönche und andere Mönche und Gläubige aus der ganzen Welt vor dem Baum niederknien. Es ist sehr heiß, und während die Mönche beten und singen, muss ich an Sex denken. Vor vielen Jahren hatte ich mal eine Affäre. Wir trafen uns immer in einem Berliner Park unter dem immer gleichen Baum. Der Baum war eine verkrüppelte Eiche und wir hatten ganz wunderbaren Sex unter diesem Baum. Irgendwann nannte ich den Baum unseren „Bodhibaum“, unseren Baum der Erlösung und Erleuchtung.
In diesem Moment spricht mich eine Journalistin aus unserer Reisegruppe an und sagt: „Das ist ein magischer Ort voller Erhabenheit und Transzendenz.“ Ich antworte: „Ja, absolut. Das ist ein magischer Ort. Ich liebe alle Bodhibäume dieser Welt“, und denke, dass mein transzendentales und spirituelles Einfühlungsvermögen definitiv noch ausbaufähig ist.
Am nächsten Tag fliege ich zurück nach Deutschland, habe zwei Stunden Aufenthalt in Frankfurt. Ich verlasse das Flughafengebäude. Es ist wunderschön kühl. Die Luft in Frankfurt kommt mir wie die reinste Luft in der ganzen Welt vor. Alles ist ruhig: keine Menschenmassen, kein Hupen, keine Mönche, keine Kühe, keine Affen, keine Gebete, kein verbranntes Menschenfleisch, kein Gestank, kein Dreck, kein Smog und keine bettelnden Kinder. Ich zünde mir eine Zigarette an und denke: „Heilige Ruhe. Ja, heilige Ruhe.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los