Improvisierte Premiere

■ Gespräch mit der Sportwissenschaftlerin Gudrun Doll-Tepper über die I.Paralympics der geistig Behinderten in Madrid

Nicht nur die Paralympioniken des Deutschen Behinderten-Sportverbandes (DBS) waren im September auf die iberische Halbinsel gereist. Auf spanischem Boden gab es noch ein weiteres Großereignis des Behindertensports: In Madrid fanden die I.Paralympics für die geistig Behinderten statt — eine Veranstaltung, die in der Bundesrepublik vollkommen unterging. Rund 2.500 Aktive und Betreuer aus 73 Ländern waren angereist. Konnte das DBS-Team in Barcelona sich vor Medaillen kaum retten, so gingen die 36 bundesdeutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Madrid leer aus. Am erfolgreichsten schnitten in den fünf Sportarten Fußball, Basketball, Schwimmen, Leichtathletik und Tischtennis die Aktiven aus Australien und Schweden ab. Dr. Gudrun Doll-Tepper, Sportwissenschaftlerin an der FU Berlin und langjährige Kennerin des Behindertensports, hat die I.Paralympics für die geistig Behinderten beobachtet.

taz: Was waren Ihre wichtigsten Eindrücke?

Gudrun Doll-Tepper: Die Veranstaltung war längst nicht so gut organisiert wie die Paralympics in Barcelona, teilweise wirkte die Premiere der Spiele für die geistig Behinderten improvisiert. Das gilt vor allem für den schlechten Transport der Aktiven sowie die mangelhafte PR-Arbeit. Das größte Manko zeigt sich allerdings bei der Zusammensetzung des Teilnehmerfeldes. Es war nicht auszumachen, nach welchen Kriterien die angereisten Aktiven ausgewählt worden waren. Es gibt im Gegensatz zu Amputierten oder Rollstuhlfahrern bei den geistig Behinderten keine einheitliche funktionelle Klassifizierung, die weltweit gilt. So gab es in anderen Mannschaften durchaus auch Aktive, die wir in der Bundesrepublik als lernbehindert einstufen würden. Andererseits gab es auch schwerbehinderte Sportler mit großen motorischen Einschränkungen.

Das muß doch zu großen Leistungsunterschieden geführt haben.

Keine Frage. Mir ist als besonders krasses Beispiel ein Basketballspiel zwischen der Dominikanischen Republik und Jordanien in Erinnerung geblieben. Die körperlichen Unterschiede waren so auffällig, daß die Jordanier schon zur Pause hoffnungslos zurücklagen und schließlich mit 31:191 verloren. Es muß dringend nach klaren Teilnehmerkriterien gesucht werden. Sich allein an dem Oberbegriff „geistig behindert“ zu orientieren, das reicht einfach nicht aus.

Welchen sportlichen Wert hatten denn diese Paralympics?

Es ist sicher kein Zufall, daß die beiden Nationen die meisten Medaillen gewonnen haben, die sich bisher besonders stark für den Leistungssport für geistig Behinderte gemacht haben. In Australien und Schweden gibt es Fördermodelle, die es geistig Behinderten ermöglichen, an einem regelmäßigen sportlichen Training und Wettkämpfen teilzunehmen. Was den Leistungssport betrifft, ist die Bundesrepublik zweifellos noch ein Entwicklungsland. Bei uns gibt es mehr Freizeitsportangebote für die geistig Behinderten. Ohnehin steht man in der Bundesrepublik dem Leistungssport für geistig Behinderte kritisch gegenüber. Es gibt auch ernstzunehmende Stimmen dagegen. Für mich ist diese Diskussion noch nicht beendet. Die Spiele von Madrid sind sicherlich als ein Zeichen der Emanzipation zu sehen, daß nun auch die geistig Behinderten ihren Platz im Leistungssport für Behinderte suchen.

Ist es denkbar, daß geistig behinderte Sportler an den Paralympics 1996 in Atlanta teilnehmen?

Genau diese Forderung hat es auf dem Schlußkongreß in Madrid gegeben. Auf alle Fälle wird es in nächster Zukunft wohl Gespräche mit dem International Paralympics Committee (IPC) geben. Ich selbst fand es sehr interessant, daß Hans Lindström, im IPC-Exekutivkomitee für alle technischen Fragen verantwortlich, meinte, er halte die Teilnahme geistig Behinderter in Atlanta für diskussionswürdig. Er habe guten Sport in Madrid gesehen und für die Forderung der geistig Behinderten viel Verständnis.

Welche Erkenntnis sollte der Deutsche Behinderten-Sportverband aus den Madrider Paralympics ziehen?

Das Gebot der Stunde ist zweifellos, sich um ein verstärktes Sportangebot zu kümmern, das heißt, es zu verbessern. Mit Blick auf internationale Wettkämpfe kann ich mir vorstellen, daß man auf Bezirks- und dann auf Länderebene mit gezielten Trainings- und Sichtungskursen für geistig Behinderte anfängt. Solche Teams könnten dann auch die Voraussetzung für ein späteres DBS-Team sein, das zuvor an all den Qualifikationen und Ausscheidungen wie die anderen behinderten Sportler teilgenommen hat. Interview: Ralf Köpke