Immobilienspekulation in Berlin: Räumungsversuch in Wild-West-Manier
Mit Hilfe einer Sicherheitsfirma versuchte der Eigentümer, die Habersaathstraße 42-48 zu räumen. Unterstützer:innen vermuten Einschüchterung.
Nur eine Stunde nach Übergabe des Schreibens beginnen die Bauarbeiter bereits Fenster aus den Wohnungen zu entfernen und auf die Straße zu tragen. Ein weiterer Bauarbeiter trägt eine Kiste voll Stromzähler aus dem Hauseingang, der von einem breitschultrigen Security-Mitarbeiter und einem Bauarbeiter mit einer Brechstange in der Hand bewacht wird. Bewohner:innen, die der Aufforderung gefolgt sind, lassen sie nicht mehr in das Haus.
Chris, einer der Bewohner:innen, steht immer noch sichtlich geschockt vor dem Hauseingang. Neben ihm steht ein Einkaufswagen mit seinen Habseligkeiten. „Keiner hier weiß, wo er sonst hin soll“, sagt er. Er zeigt ein Video, das eine Freundin, die sich noch im Haus befindet, gerade geschickt hat. Darauf zu sehen: Eine verwüstete Wohnung, deren Tür eingetreten und Badmöbel demoliert wurden – vermutlich von den Bauarbeitern, die sich mit Vorschlaghämmern und Brecheisen durch das Haus bewegen. „Die kommen hier mit ihren Schlägertrupps und bedrohen uns“, sagt Chris.
Erfolgreiche Besetzung
Wie die meisten anderen Bewohner war Chris obdachlos, bevor er vor anderthalb Jahren in die Habersaathstraße zog. Jahrelang standen zahlreiche der voll möblierten Wohnungen leer, weil der Eigentümer das Gebäude abreißen und durch einen Luxusneubau ersetzen will. Da das aber nach dem Zweckentfremdungsverbotsgesetz illegal sein könnte, befindet sich der Eigentümer Andreas Pichotta im Rechtsstreit mit dem Bezirk und den verbliebenen Mieter:innen. Der Eigentümer ließ das Haus verkommen, immer mehr Wohnungen standen leer.
Im Dezember 2021 erstritt die Initiative Leerstand-hab-ich-Saath zusammen mit einer Gruppe wohnungsloser Menschen mit einer Besetzungsaktion das Haus. Nach intensiven Verhandlungen zwischen Eigentümer, Bezirk und der Initiative konnte zunächst eine Duldung für das Projekt erwirkt werden. In dem Schreiben bestreitet Arcadia Estates allerdings, dass der Bezirk jemals die Zahlungen für die Nebenkosten übernommen hätte, wie damals vereinbart.
Darüber, ob die getroffenen Vereinbarungen auch für die aktuellen Bewohner:innen gelten und welche Gelder vom Bezirk tatsächlich geflossen sind, scheint auch beim Bezirk Unklarheit zu herrschen. Der kurzfristig herbeigeeilte stellvertretende Bürgermeister und Sozialstadtrat Mittes, Carsten Spallek (CDU), kündigte an, den Sachverhalt umgehend zu prüfen.
Kurz nach Eintreffen des privaten Räumungskommandos mobilisierten auch die Bewohner:innen ihre Unterstützer:innen. Rund 50 Menschen versammelten sich im Laufe des Vormittags vor dem Haus. Darunter auch Valentina Hauser, Sprecherin der Initiative Leerstand-hab-ich-Saath. „Die Räumung ist absolut illegal“, sagt Hauser. „Für die Menschen hier wäre es eine Katastrophe, sie landen wieder auf der Straße.“
Wohnungen sollen zerstört werden
Mascha Walter vom Bündnis Zwangsräumungen verhindern sieht ebenfalls keine Rechtsgrundlage. Selbst ohne gültige Mietverträge müsse der Räumung eine Klage vorangehen. Der Eigentümer versuche in „Wild-West-Manier“ einen „rechtsfreien Raum durchsetzen“, so Walter.
Trotz der rechtlich zweifelhaften Situation verhält sich die hinzugerufene Polizei sehr zurückhaltend und verweist auf Anfrage der Aktivist:innen schulterzuckend auf eine „zivilrechtliche Angelegenheit“. Gegen 12.30 Uhr ziehen Bauarbeiter und Security unverhofft wieder ab. Erfolgreich räumen konnten sie an diesem Tag nicht, dafür gibt es aber weder Strom noch Wasser in dem gesamten Wohnblock – auch nicht für die 12 verbliebenen Langzeitmieter:innen mit regulären Mietverträgen.
„Es geht darum, die Wohnfähigkeit der Wohnungen zu zerstören“, vermutet Daniel Diekmann vom Mieterbeirat der Habersaathstraße. Diekmann ist einer der letzten Bestandsmieter:innen des Hauses und kämpft seit Jahren für den Erhalt der Habersaathstraße. In seine Wohnung gelangte er zunächst nicht – die Bauarbeiter haben die Schlösser am Hauseingang gewechselt. „Ich sehe das als Nötigung und Hausfriedensbruch“, sagt Diekmann.
„Es ist unmöglich, wie der Eigentümer versucht, die letzten verblieben Bewohner aus den Wohnungen zu schmeißen“, verurteilt der Grünen-Abgeordnete Ario Mirzaie, der als parlamentarischer Beobachter vor Ort ist, den Räumungsversuch. Mirzaie vermutet, Arcadia Estates wolle Fakten schaffen, da es im laufenden Rechtsstreit gerade nicht so gut läuft.
Am 17. September wird vor Gericht eine Räumungsklage gegen die verbliebenen Mieter:innen verhandelt. Und die Chancen stehen gut, dass die Arcadia den Prozess verliert. Und solange Mieter:innen mit gültigen Verträgen im Haus wohnen, kann Arcadia nicht abreißen. Die Abrissgenehmigung lief bereit am 31. Juli aus. Diese kann zwar verlängert werden, aber auch die bereits erteilte Baugenehmigung läuft im Juni nächsten Jahres ab – hier erfordert eine Verlängerung deutlich mehr Aufwand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Selenskyj bringt Nato-Schutz für Teil der Ukraine ins Gespräch
Parteitag der CDU im Hochsauerlandkreis
Der Merz im Schafspelz