Immobilienentwickler Evergrande: An den Rand des Abgrunds spekuliert

Der chinesische Immobilienkonzern Evergrande schlittert immer tiefer in die Krise. Die Zinsfristen sind überschritten, die Aktie ausgesetzt.

Hochhäuser ragen in den blauen Himmel, links der Hauptsitz von Evergrande

Zentrale für Verheißung und Größenwahn: Evergrande-Firmensitz in Shenzhen Foto: Ng Han Guan/dpa

PEKING taz | Als die boomende Immobilienbranche auf einem nicht enden wollenden Pfeil nach oben zu reiten schien, ließ der Branchenriese Evergrande direkt vor der Nordküste Hainans, Chinas tropischer Ferieninsel, einen künstlichen Archipel in Form einer aufblühenden Blume aufschütten. Ausgerechnet das schillernde Bauprojekt im Wert von über 20 Milliarden Euro droht nun, dem strauchelnden Marktriesen den Todesstoß zu verpassen: 39 riesige Apartmentanlagen muss Evergrande laut Medienberichten auf „Ocean Flower Island“ innerhalb von zehn Tagen abreißen lassen. Der Grund: Der Entwickler soll die Baugenehmigungen illegal erworben haben.

Das ist der vermutliche Auslöser der Hiobsbotschaft vom Montag, als die Hongkonger Börse in einer knappen Stellungnahme bekannt gab, die Evergrande-Aktie werde vom Handel ausgesetzt. Der Firmenzentrale in Shenzhen war bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe keine weitere Erklärung über die Hintergründe zu entlocken.

Doch angesichts der jüngsten Entwicklungen rund um den Immobilienkonzern ist der Handelsstopp alles andere als überraschend: Vergangenen Dienstag soll der Konzern erneut den Termin für eine sogenannte Kuponzahlung, also eine Zinsausschüttung an die Aktionäre, in Höhe von über 250 Millio­nen Dollar verpasst haben.

Zuvor hatten bereits zwei interna­tio­nale Ratingagenturen den in Höhe von 300 Milliarden US-Dollar verschuldeten Immobilienriesen auf „restricted default“ herabgestuft – das ist nur einen Schritt von der vollständigen Zahlungsunfähigkeit entfernt. Die am Montag ausgesetzten Aktien hatten 2021 eine einzige Talfahrt hingelegt: 90 Prozent Wertverlust innerhalb von zwölf Monaten.

Gier und Größenwahn

Tatsächlich ist der Niedergang von Evergrande vor allem ein Beispiel für Gier und turbokapitalistischen Größenwahn. Jahrzehntelang hatten Immobilienentwickler keinerlei Skrupel, sich mit immer umfangreicheren Krediten zu übernehmen. Denn diese waren schließlich frei verfügbar – und man war der Meinung, dass der Staat im Notfall schon aushelfen werde. Denn der könne auch kein Interesse an einem neuen Lehman-Skandal haben. Apartmentwohnungen wurden wie spekulative Waren gehandelt. Knapp ein Fünftel des chinesischen Wohnbestands soll derzeit leer stehen, weil die Preise für die Bevölkerung inzwischen schlicht zu hoch sind.

„Häuser werden gebaut, um bewohnt zu werden, und nicht für Spekulationen“, sagte Staatschef Xi Jinping beim letztjährigen Parteitag der Kommunistischen Partei. Die Staatsführung regulierte die Schuldenquote sowie die Kreditvergabe – und brachte damit unweigerlich die überhitzte Branche ins Straucheln.

Häuslebauer können auf Staat hoffen

Schadenfreude ist angesichts der Evergrande-Tragödie allerdings fehl am Platz. Denn möglicherweise 1,6 Millionen chinesischer Häuslebauer sitzen vor unfertigen Apartmentsiedlungen. Wahrscheinlich wird der Staat ihnen tatsächlich noch aus der Patsche helfen, denn Unruhen und Proteste möchte die Kommunistische Partei in jedem Fall vermeiden. Die internationalen Gläubiger laufen hingegen höchste Gefahr, kein Geld mehr zu sehen.

Der Immobilienmarkt wird in China zweifelsohne einen nachhaltigen Wandel durchlaufen. Am Sonntag publizierte die Zentralbank eine Studie, nach der rund 56 Prozent aller Chinesen für das laufende Jahresquartal gleichbleibende Häuserpreise erwarten, über 15 Prozent gehen sogar von sinkenden Preisen aus. Was in anderen Ländern eine Randnotiz wäre, ist in der Volksrepublik überaus bemerkenswert. Denn jahrzehntelang war die Bevölkerung von der Illusion geblendet, dass – komme, was wolle – die Immobilien auf absehbare Zeit immer weiter an Wert gewinnen würden.

Neben einem Mangel an sicheren Anlagemöglichkeiten war dies auch der Hauptgrund, warum die Chinesen trotz der bereits absurd teuren Marktpreise ihr Erspartes weiterhin in den Immobiliensektor investierten, der laut Schätzungen bereits 29 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Rund drei Viertel des Wohlstands aus Privathaushalten ist in Immobilien geparkt.

„Ich bin noch nicht bereit, den Immobiliensektor für 2022 abzuschreiben, weil ich erwarte, dass Peking und die lokalen Regierungen alles tun werden, um ihn zu stabilisieren“, kommentiert Michael Pettis, Ökonom an der Peking-Universität, auf Twitter: „,Aber es ist ziemlich klar, dass 2021 das Vertrauen in ständig steigende Immobilienpreise gebrochen hat.“

Auszuschließen ist jedoch nicht, dass Evergrande doch wieder auf die Beine kommen könnte. Denn im Oktober war der Handel mit den Wertpapieren des größten chinesischen Baukonzerns wegen nicht bedienter Anleihezinsen schon einmal unterbrochen, und es ging doch weiter. Aber mittelfristig deutet alles darauf hin, dass die Tragödie rund um den am höchsten verschuldeten Immobilienentwickler der Welt kein schönes Ende nimmt.

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