piwik no script img

Immo to go

Am Stuttgarter Ostendplatz, im Herzen des alten Arbeiterstadtteils, betreiben Andreas Bär und Elin Doka einen Raum, der die Grenzen zwischen Alltag und hoher Kunst gekonnt verwischt. Auch das Züblin-Parkhaus im Stadtzentrum wird immer mehr zu einem Ort der Kultur.

Kultur mit Muckies: Elin Doka vor dem Projektraum Ostend. Fotos: Jens Volle

Von Dietrich Heißenbüttel↓

Gegenüber ein Friseur, ein Callshop und ein Wett­büro: Der Projektraum Ostend von Elin Doka und Andreas Bär, kaum 50 Meter vom Ostendplatz entfernt, befindet sich nicht in einer bevorzugten Lage. Stuttgart-Ost, mit fast 50.000 Bewohnern der zweitgrößte Stadtteil, ist aus Arbeitersiedlungen hervorgegangen. Zeitgenössische Kunst hatte hier immer einen schweren Stand. Auf stadtteilbezogene, gewerkschaftliche Kulturarbeit konzentrierte sich von 1982 bis 2000 Wolfram Isele mit „Das Werk“ in Gablenberg. Ebenfalls dort eröffnete Byung-Chul Kim 2009 für ein Jahr sein Performance Hotel. Dauerhaft blieb nur eine Initiative von KünstlerInnen – der Projektraum Zero Arts am anderen Ende, Richtung Villa Berg.

Aber ist das, was Bär und Doka in ihrem Eckladen veranstalten, überhaupt Kunst? Auf den ersten Blick sieht es gar nicht so aus. Der Projektraum Ostend war schon Immobilienbüro, Motorradwerkstatt, Pommesbude, Videothek und zuletzt beinahe Fotostudio, wegen der Corona-Bestimmungen jedoch abgewandelt zu einer Schaufenster-Ausstellung. Wurden hier wirklich Immobilien verhökert? Es schien jedenfalls so. „Immo to go“ stand in silbernen Lettern an der Schaufensterscheibe. Zettel mit Angeboten hingen aus. Und siehe da: Immer wieder betraten Interessenten den Laden und fragten nach.

In Realität ging es eher darum, das Spiel zu hinterfragen. Unter anderem mit einem Theaterstück unter dem Titel: „Mieter Günther will nicht weg – Wenn Wohnen zum Luxus wird!“ Über ein Jahr haben Doka und Bär gesucht, bis sie den Laden über eine Anzeige im Netz gefunden haben. Das Haus gehört dem Bau- und Wohnungsverein, früher einmal Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen, dem ältesten Vermieter im Stadtteil. Das Verhältnis sei gut, sagen sie. Allerdings zahlen sie doppelt so viel wie für ihr früheres Atelier.

Zeitreise im Eckladen

Der Eckladen ist für sie mehr als ein Atelier. Es scheint, als ob ihre beiden Lebenswege geradewegs darauf zugesteuert seien. Bär zieht es immer wieder in den Stuttgarter Osten. Er ist Gründungsmitglied im Freien Radio für Stuttgart, alle zwei Wochen sendet er innerhalb der Kulturredaktion unter dem Titel „Bär on Air“. Er hat Kunst, aber auch empirische Kulturwissenschaften studiert und interessiert sich für Subkulturen. Auf den ersten Blick ein wenig paradox: Er hat bei Joseph Kosuth, dem Vater der Konzeptkunst, studiert. Doch von allem, was elitär wirken könnte, hält er sich fern. „Ich steige aus der Kunst aus“, war eine Ausstellung von ihm im Projektraum Zero Arts betitelt.

Doka hat Bühnenbild studiert. Sie arbeitet zu gleichen Teilen als freie Künstlerin und im Auftrag: Raum- und Ausstellungsgestaltung, Illustrationen, Bühnenhintergründe für Film und Theater. Zum Trickfilm-Festival 2016 hat sie eine 650 Quadratmeter große Plane an der ­Fassade des Breuninger Markts bemalt. Der Ladenraum mit seinen vier großen Schaufenstern und Glastür ist für sie wie eine Bühne, die sie immer wieder neu deko­riert, je nachdem, welches Stück gerade gespielt wird. Als sich etwa der Projekt­raum im Januar in die Ostend-Videothek verwandelte, fand sie sogleich in ihrem Fundus ein passendes altes, handgemaltes Kinoplakat.

Die Perspektive umkehren. Die Dinge einmal von der anderen Seite betrachten. Das ist es, was Doka und Bär in ihrem Projektraum an wechselnden Themen immer wieder neu durchexerzieren. Zum Beispiel die Videothek: Eine Art von Laden, den es einmal an jeder Ecke gab, der aber mittlerweile der Geschichte angehört. In der Ostend-Videothek konnte man keine Videos ausleihen, dafür aber seine eigenen, alten VHS-Videos mitbringen und ansehen. Eine Zeitreise. Und eine gute Gelegenheit, sich über Vorlieben und den Wandel der Zeiten auszutauschen.

Motorrad und Kunst? Geht super zusammen

Die Motorradwerkstatt war geradezu ein Muss. 1997 auf der Documenta hat Bär den MC o. T. gegründet, den Motorradclub ohne Titel. Er wollte sehen, ob es zwischen den Bereichen Kunst und Motor­rad nicht doch Schnittmengen gäbe. Zehn Jahre später war der Club selbst zum Rahmenprogramm der Documenta eingeladen. Über den MC o. T. haben sich Doka und Bär kennengelernt. Denn auch sie ist leidenschaftliche Motorradfahrerin. Für die Ausstellung „MC o. T. und die Kunst ein Motorrad zu warten“ war der Raum als Motorradwerkstatt eingerichtet. An den Wänden hingen Zeichnungen, wie Kunstwerke gerahmt: Arbeiten eines technischen Zeichners aus dem Stuttgarter Osten.

Auch mit Jörg Scheller, ihrem nächsten Gast, sind Bär und Doka durch den MC o. T. in Kontakt gekommen. Kontext-Lesern ist Scheller, Kunstgeschichtsprofessor an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), als Autor und Mitglied des Heavy-Metal-Lieferservice Malmzeit bereits gut bekannt. Im Projektraum Ost­end war Malmzeit gleich am Anfang zu Gast. Der nächste Programmpunkt am 21. August fand nun allerdings aus aktuellen Gründen nicht dort statt, sondern auf dem Dach des Züblin-Parkhauses: „Stuttgart verspann Dich! Ein philosophisches und kunstwissenschaftliches Workout wider den Zeitgeist“.

Das Parkhaus ist soeben mit dem ganzen Umfeld zu einem der ersten Projekte der Internationalen Bauausstellung (IBA) 2027 ernannt worden. Als überdimensionierter Klotz trennt es die beiden Gebiete der früheren Stuttgarter Leonhardsvorstadt, das Bohnenviertel und das Leonhardsviertel, gemeinhin auch Altstadt genannt, weil von der Stuttgarter Altstadt sonst nicht viel übrig ist. Das Quartier ist als Rotlichtviertel eher berüchtigt als berühmt. Und so leistete der Projektraum Ebene 0 Pionierarbeit, als er vor acht Jahren mit Kunstausstellungen in einen kleinen Erdgeschossraum des Parkhauses einzog.

Kultur-Headquarter im Züblin-Parkhaus

Inzwischen hat sich das Parkhaus jedoch zu einem richtigen Kultur-Headquarter gemausert. Seit 2014 tapezieren Fotografen einmal im Jahr unter dem Titel „Fumes and Perfumes“ die schnöden Betonwände mit ihren Aufnahmen, die dann das ganze Jahr über hängen bleiben. Die letzte Eröffnung fand statt als „Drive-Through-Vernissage“: Man konnte im eigenen Auto anreisen und erhielt dann, durch alle sechs Ebenen fahrend, eine individuelle Führung. Oben auf dem Dach gibt es ein Urban-Gardening-Projekt mit herrlichem Rundblick über die Dächer der Stadt und eine kleine Veranstaltungsbühne.

Nun hat der Parkhausbetreiber dem Betreiber der Ebene 0 gekündigt und den Raum stattdessen Sara Dahme und Christian Rühle übergeben, die ihn unter dem Namen Kultur Kiosk neu bespielen. Ebene 0 hat früher etwa sechs bis acht Ausstelllungen im Jahr veranstaltet. Zuletzt waren es weniger geworden, und geöffnet war nur bei den Vernissagen. Dahme und Rühle möchten dagegen jeden Tag offen haben, wenn auch nicht immer in eigener Regie: Gastveranstalter sind willkommen.

Rühle betreibt in Weinstadt eine Old­timer-Werkstatt. Spezialität: amerikanische Muscle Cars. Im vergangenen Jahr hat er auf dem Dach des Parkhauses bereits ein Oldtimertreffen organisiert. Dahme ist als Kunst- und Kulturvermittlerin seit einigen Jahren in Stuttgart omnipräsent. Sie führt öffentliche Gespräche mit Personen aus dem Kulturleben, macht Ausstellungsführungen, Videos und Workshops unter anderem im Württembergischen Kunstverein, in der Staatsgalerie und im Theater Rampe. Sie ist gut vernetzt. Eine passendere Kombi hätte sich der Parkhausbetreiber nicht aussuchen können.

Die „Belles de nuit“ verwandeln den Leonhardsplatz in eine rosa Traumwelt.

Weg vom Schmuddel-Image

Alle zwei Monate will Dahme eine Ausstellung eröffnen. Aber auch an Gespräche, Lesungen, Diskussionen, Kino und Konzerte ist gedacht. Anders als Doka und Bär haben Dahme und Rühle keine städtische Kulturförderung beantragt. Sie wollen die Unkosten durch den Getränkeverkauf decken. Auch im Viertel hat sich die umtriebige Vermittlerin bereits vorgestellt und stieß bei Kneipenwirten und dem Verein Leonhardsvorstadt auf positive Resonanz.

Zur Eröffnung sprach Veronika Kienzle, Bezirksvorsteherin Mitte und Oberbürgermeisterkandidatin der Grünen. Nichts wäre ihr lieber, als das Viertel von seinem Schmuddel-Image zu befreien. Drei Jahre soll das Parkhaus nach derzeitigem Stand noch stehen, bevor im Zuge der IBA etwas Neues entsteht. Aber vielleicht hat das Neue auch schon begonnen. Kienzle möchte die beiden Quartiere wieder zusammenbringen, deutete aber auch an, dass das, was jetzt im Kultur Kiosk passiert, möglicherweise eine längere Perspektive haben könnte.

Wie das architektonisch aussehen kann, ob das Parkhaus ganz oder nur teilweise platt gemacht oder zu etwas anderem umgebaut wird, ist die eine Frage. Neben der Hardware, dem Beton, geht es aber auch um die Software, die Kultur, die nicht zwingend an die bestehende Architektur gebunden ist. Entscheidend ist, dass sie bei den Planungen Berücksichtigung findet.

Wie Kunst und Kultur den Stadtteil verwandeln können, zeigte der Eröffnungsabend. In den Flamingokostümen von Justyna Koeke tanzten die „Belles de nuit“ hinüber zum Leonhardsplatz, zur Musik von Oliver Prechtl aus dem Rollkoffer: „Tanzend und in verwegenen Kostü­men“, so die Ankündigung, „erobern sich alte Frauen den Stadtraum zurück: Orte, von denen sie nicht mehr erwartet werden.“

Als Sandra Hartmann, eine italienische Opernarie singend, langsam zurück zum Kultur Kiosk zog, mussten zwei Auto­fahrer, die nicht warten wollten, wieder umdrehen. Die Stadt gehörte auf einmal nicht mehr dem Verkehr, den Männern, dem Kommerz. Eine Vorahnung, was sein könnte.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen