Im englischen Rochdale: Besuch im kooperativen Herzen
Hier wurden die ersten Kooperativen gegründet. Sie sollten während der Industrialisierung Menschen vor Armut und unsicherer Arbeit schützen.
Wir nähern uns einem kleinen zweistöckigen roten Backsteinhaus. „Hier sind wir am Schrein!“, sagt Tim Nuttal, 60, Rochdaler Chef für Tourismus. Er erzählt, wie Japaner ihn baten, einen Teil der Abdeckplane, die das Pioneer’s Museum während dessen Restaurierung bedeckten, zu öffnen, damit sie den roten Backstein berühren konnten. Mit großen Buchstaben ist auf dessen Außenwand „Delicious Co-op Tea“, mit einer Teetasse, gemalt. Hier stand einst der erste kooperative Laden der Welt.
Gleich am Eingang steht eine Rekonstruktion, wie es 1844 aussah: Ein Brett auf zwei Fässern war die improvisierte Verkaufstheke. Obendrauf ein Riesenstück Butter, ein Zuckerhut, Säcke mit Mehl und Haferflocken, einige Kerzen und eine Waage. Viele mussten damals mit verpfuschtem Essen leben.
Dazu kam, dass beim Wiegen oft mit falschen Gewichten betrogen wurde. Dem wollte die Kooperative ein Ende bereiten. Im weiteren Teil des Museums wird die Geschichte der 28 „Rochdaler gleichberechtigten Pioniere“ erzählt.
Industrialisierung: Die Ellenroad Trust Ltd wurde 1985 gegründet zum Erhalt des Ellenroad-Maschinenparks. Er ist dienstags und donnerstags für Besucher zugänglich, die Dampfmaschine läuft am ersten Sonntag jeden Monats. www.ellenroad.org.uk
Pioneers Museum: www.rochdalepioneersmuseum.coop
Ausflüge: Holligworth Lake und die Umgebung des Mittelgebirges Pennines eignen sich für Fahrradtouren. Infozentrum +44 (0) 17 06 37 34 21. Leihräder gibt es in Manchesters Bicycle Boutique www.bicycleboutiquemcr.co.uk, kooperativ kutschiert man mit der kooperativen Taxifirma Town Taxis +44 (0) 17 06 75 07 50.
Das ehemalige Zentrum der Wollweberei
Rochdale liegt am Fluss Roch und in der Nähe von vielen Bächen, die aus den Bergen der Pennines kommen. Das fließende Wasser konnte Wasserräder antreiben. So wurde Rochdale Zentrum der Wollweberei. Als gegen 1800 die Dampfmaschinenwerke kamen, wurde die Produktion auf Baumwolle umgestellt. Wir besuchen ein Maschinenhaus. In ihm verbirgt sich die größte noch funktionierende Dampfmaschine. Einst trieb sie 120.000 Spindeln an. Nebenan steht das Gebäude von Sun Chemicals, Rochdales heutiger industrieller Nachlass. Hier werden heute 95 Prozent der britischen Zeitungstinte hergestellt.
Wir fahren weiter und erreichen den Stausee Hollingworth, der einst zur Bewässerung des örtlichen Kanals gebaut wurde. Für Arbeiter im 19. Jahrhundert war diese Idylle der einzige erreichbare Ort der Erholung. Mit dem Auto fahren wir über den Damm eine kleine gewundene Straße hoch, hinein in eine begraste hüglige Landschaft mit kleinen Häusern aus dem 18. Jahrhundert.
Am Ende des Weges steht ein zweistöckiges graues Backsteinhaus mit Wasserrad an einem Bach. Das Haus hat schmale, länglich und eng aneinandergereihte Fenster in den oberen Stockwerken, ein typisches Weberhaus für mehrere Familien aus der Zeit kurz vor der Industriellen Revolution. Die Arbeit wurde oben verrichtet, die Familien lebten unten. Doch mit der Industrialisierung mussten diese Weber in Großfabriken wie Ellenroad schuften.
Die kooperativen Grundprinzipien
Es war die Unzufriedenheit mit den neuen Arbeitsbedingungen, die zu zahlreichen Aufständen und Protestbündnissen in Rochdale und im benachbarten Manchester führten. Unter den Gruppierungen fanden sich die Chartistenbewegung, religiöse Vereinigungen wie auch erste kurzlebige Versuche kooperativer Gemeinschaften. Der erste kooperative Kongress beschloss 1831, dass „Kooperation Menschen vor Armut, Kriminalität und schlecht bezahlter und unsicherer Arbeit“ schützen solle.
Dreizehn Jahre später entstand die Rochdaler Kooperative mit definierten Grundprinzipien, bekannt als Law First. Hier sollte nicht nur qualitative Ware verkauft werden, sondern im Mittelpunkt sollte die Erziehung stehen. Vom Erwerb sollten alle Mitglieder profitieren. Das Modell war ausgereift, es war erfolgreich und breitete sich rasch aus.
Aus den anfänglichen 28 Mitgliedern waren bereits 1860 3.450 geworden, darunter viele Frauen. Drei Jahre später wurde in Manchester die The Co-operative Wholsale Society (CWS) gegründet. Heute heißt sie The Co-operative Group, mit kooperativen Banken, Versicherungen, Supermärkten und dem größten nationalen Bestattungsdienst.
Erlösung der industriellen Klassen
Auf dem Rückweg von Hollingworth machen wir beim Harehill-Park Rast. In dessen Mitte steht ein gotisch-klassischer, aus rosa und grauem Granit geschlagener Trinkbrunnen, gespendet von der Textilfabrik CWS, die auch heute noch, wie viele andere Fabrikgebäude in der Region, verlassen am Rande des Parks steht.
Auf dem Brunnen ist der Spruch des frühen Mitglieds der Rochdaler Koop, J. T. W. Michell, eingemeißelt: „Kooperation ist die größte, nobelste Kraft in der Erlösung der industriellen Klassen.“ Im Park treffen wir den 71-jährigen Malcolm McCormich. Er arbeitete in den Textilfabriken. „Ganze Straßenabschnitte waren hier einst Kooperativen, die im Gegensatz zu heutigen Geschäften den Menschen halfen“, erinnert er sich.
Wer durch die Straßen Rochdales fährt, kann sie überall entdecken. Sie hatten im Obergeschoss Leseräume, die der Bildung dienten. Heute dienen die ehemaligen kooperativen Häuser beispielsweise als Wettbüro. Viele Menschen aus anderen Regionen zogen einst nach Rochdale. Im 19. Jahrhundert waren es vor allen Iren, später kamen Polen, Ukrainer sowie schließlich Migranten aus Pakistan und Bangladesch.
Die kooperative Idee lebt
Wir übernachten in der Vier-Sterne-Pension Moss Lodge, die einst die Residenz eines Textilfabrikbesitzers war. Die heutige Besitzerin hat das Haus modern-viktorianisch restauriert. Am nächsten Morgen besuchen wir die Gräber der Rochdaler Pioniere. Eine Attraktion für internationale Besucher. Nicht weit vom Friedhof liegt ein altes Einkaufszentrum mit Autoparkplatz.
Die Apotheke und der Supermarkt dort gehören zur Co-operative Group. Ich frage die Supermarktangestellte, Jane Flynn, was sie von ihrer Arbeit hier hält. Sie sagt, dass sie stolz sei, hier zu arbeiten, denn sie käme selbst, genau wie die kooperative Idee, aus Rochdale.
In einem modernen Bürokomplex hat die nationale Gesundheitsabteilung der Co-op-Gruppe ihren Sitz. So bleibt sie der Pionierstadt verbunden. Vor kurzem durften Rochdaler Sozialmieter wählen, ob sie ihre Wohnungen in eine Kooperative verwandeln wollten. Sie stimmten mit Ja. Damit sind Rochdales Sozialwohnungen die monumentalsten kooperativen Monumente der Stadt, denn zu ihnen gehören riesige 16-stöckige Häuser aus den 60er Jahren. Auch die Bahnhofsuhr ist ein ehemaliges Geschenk der Co-operative Group. Sie wird auch weiterhin ticken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!