Buchessay über Krautrockband Can: Im Mosaik der Echokammern
Hendrik Otremba hat ein kluges Buchessay über die Kölner Krautrockband Can geschrieben. Er macht ihr komplexes Werk für jüngere Menschen verständlich.
„The Germans never appreciate what’s on their own doorstep“, postulierte einst Mark E. Smith, Kopf der legendären britischen Postpunkband The Fall. Die Propheten im eigenen Lande? Mit seiner Einschätzung behielt Smith recht, bezog er sie doch auf die geringe Wertschätzung der Kölner Krautrock-Heroen Can im Westdeutschland der 1970er und 1980er.
Ähnlich ihren Düsseldorfer Kollegen Kraftwerk wurden und werden Can in der englischsprachigen Welt abgöttisch verehrt. Kein Wunder, denn in beiden Fällen erwies sich ihr musikalisches Schaffen nicht nur als überaus einflussreich auf singuläre britische Popstars wie David Bowie und Brian Eno, sondern auch desgleichen auf die Entwicklung von Genres wie den englischen Postpunk und den US-Postrock der 1990er insgesamt: Bands wie eben The Fall und Portishead, aber ebenso famose Klangforscher wie Sonic Youth und Tortoise sind nie zu ehrfürchtige, aber doch dankbare Erben von Can.
Wie es dazu kam, dass eine rheinische Band solch immensen Einfluss besaß, und dies nicht allein auf die Mutterländer der Popmusik, sondern ebenso in Frankreich und anderen europäischen Ländern, erklärt der Berliner Musiker und Schriftsteller Hendrik Otremba nun so kenntnisreich wie konzise in seinem Buch „Can. Essays zu Werk und Ästhetik“.
Exorzismus gegen Nazis
Diese Breitenwirkung resultierte daraus, dass die Krautrocker von Can darauf bedacht waren, anglo-amerikanische Muster nicht zu imitieren, sondern ihr eigenes, ihr Kölner Ding zu machen. Es ging der Band darum, idiosynkratischen Sound zu finden, der als musikalischer Ausdruck einer neuen, auch nationalen Identität dienen konnte, mit der die vier Musiker die Schrecken der Nazizeit zu exorzieren suchten.
Hendrik Otremba: „Can. Essays zu Werk und Ästhetik“. Wallstein Verlag, Göttingen 2025, 118 Seiten, 20 Euro
Dementsprechend kurvenreich gestaltete sich ihre heimische Rezeptionsgeschichte, ganz wie es Smith auf den Punkt brachte: Zwar waren Can in den 1970er und 1980er Jahren hierzulande moderat erfolgreich, inzwischen sind sie jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten.
Wie schade! Von Kraftwerks elektronischer Zukunftsmusik bis zu den anarchischen, kommunalen Improvisationsexzessen von Amon Düül brachte Krautrock ab Ende der 1960er Jahre zuvor unbekannte Klangwelten hervor. Das galt zumal für Can, denn sie waren eine Gruppe aus vier Individualisten (Keyboarder Irmin Schmidt, Bassist Holger Czukay, Schlagzeuger Jaki Liebezeit und der Gitarrist Michael Karoli). Alle vier brachten gleichberechtigt ihre jeweiligen Präferenzen in die Band ein, um dadurch etwas im Wortsinne Unerhörtes zu stiften.
Die Beats: fulminant und stoisch zugleich
Mustergültig zu hören ist die Klangmagie von Can auf ihrem vierten Album „Ege Bamyasi“ (1972). Lustvoll verwandelt das Quartett seine fesselnde Klangforschung in mitreißende Songs wie „Vitamin C“ und „Spoon“. Liebezeit trommelt fulminant mit stoischer Ruhe, darüber ergießen sich Improvisationen der Musiker, während Vocalist Damo Suzuki sich meditativ die Seele aus dem Leib schreit.
Cans zwischen Avantgarde und Hitpotenzial mäandernde Musik hat ihre Spuren in instrumentalen Genres wie Postrock und Ambient hinterlassen. Aber auch im HipHop, auf Alben von LL Cool über A Tribe Called Quest bis Kanye West. Der britische Musikjournalist Rob Young hat dementsprechend mit „All Gates Open. The Story of Can“ (2018) einen Wälzer publiziert, von dem behauptet werden darf, dass es sich um das definitive Werk zur Bandgeschichte handelt. Nicht jede/r mag sich allerdings durch die 600 Seiten kämpfen.
Willkommen ist daher das im Vergleich schmale grüne Bändchen zu Can, das Hendrik Otremba nun vorgelegt hat. Lesenswert ist dessen Annäherung an Can nicht zuletzt deshalb, weil er dafür einen essayistischen Ansatz gewählt hat. In acht so konzisen wie tief schöpfenden Kapiteln, die ausgehen von Stichwörtern wie Ruinen, Collage, Kontinuitäten und Rhapsodie, beleuchtet Otremba das komplexe Phänomen Can.
Äshetische Leitlinien
Entnommen sind diese Begriffe einem längeren Interview mit Irmin Schmidt, dem letzten noch lebenden Musiker der Band, das den Anfang des Buches bildet. Es erweist sich als überaus kluge Entscheidung, denn der einleitenden Innensicht auf Can folgt dann die schwerpunkthafte Entfaltung der ästhetischen Leitlinien ihrer Musik als kritische Außensicht durch Otremba.
Dieses verständnisstiftende Verfahren passt zur Reihe „Popgeschichte“, in deren Rahmen Otrembas Schrift im geisteswissenschaftlich geprägten Wallstein Verlag erschienen ist. Dass sich Germanistikprofessor:Innen neuerdings mit Fachfremdem wie Popmusik beschäftigen, führte bislang fast durchweg zu akademisch verbrämter Fanfiction, in denen die ins gesetzte Alter vorrückenden Herren (kaum Damen!) sich an die Idole ihrer Jugend erinnern. Exemplarisch ist das im Auftaktband der Reihe zu Bruce Springsteen zu besichtigen.
Otrembas als Band Nummer zwei erschienenes Werk hängt die Latte höher, was intelligentes Schreiben über Popmusik betrifft. Ähnlich wie ein Arzt bei der Diagnostik eine Haltung zwischen Distanz und Empathie zu seinen Patient:Innen finden muss, versteht es auch Otremba als Nachgeborener, der die explosiv-hypnotische Kraft von Cans Liveauftritten nie selbst erleben durfte, seine allein medial vermittelte Kenntnis der Musik mit einer subjektiven Begeisterung für deren Innovationsfreude, Wirkmächtigkeit und Ekstasepotenzial zum Thema zu machen. Die probeweisen Erkundungen von Cans musikalischer Magie profitieren davon immens.
Acht Suchbefehle
Als „Suchbefehle“ versteht Otremba die Einworttitel seiner acht Kapitel: Ganz wie es der Gattung des Essays entspricht, umkreist er von autobiografischen Ausgangspunkten aus konstitutive Aspekte von Cans Klangkunst. So geht er beispielsweise der Frage nach, wie die wechselnden Sänger das Profil der Band geprägt haben beziehungsweise wie deren jeweils höchst idiosynkratischer Performancestil auf das improvisierende Zusammenspiel der vier Musikerpersönlichkeiten zurückwirkte.
Oder nehmen wir die Kernästhetik von Can, die im Essay „Collage“ behandelt wird: Otremba beschreibt, wie diese zurückgeht auf den Kölner Komponisten Karlheinz Stockhausen, bei dem mehrere Bandmitglieder studiert hatten, dann die Cut-up-Techniken des US-Schriftstellers William S. Burroughs integriert und schließlich in Vorwegnahme des britischen Künstlers Brian Eno, der das Studio als Instrument benutzt hat. Im Can-eigenen Studio „Inner Space“ im provinziellen Weilerswist wurde aus den Bändern mit Improvisationen die besten Stellen zu etwas aufregend Neuem montiert.
Otrembas thematisch orientierte Essays liefern Can-Kennern, auch als „Canibalen“ bekannt, überraschende Einblicke, doch sein Buch eignet sich zugleich bestens als Einführung für Bandneulinge. Auch dies ist keine Selbstverständlichkeit bei vergleichbaren Büchern.
Hinzu kommt, dass Otrembas Essays gut geschrieben und bestens lesbar sind. Immerhin unterrichtet der Autor von inzwischen drei Romanen in Zürich und anderswo die schwere Kunst des kreativen Schreibens. Cans heterogenes Werk, so heißt es etwa, gleiche „einem Mosaik offener Echokammern, in denen sie klangliche Abbilder des Zustands ihrer Generation erschufen“.
Was in diesen Echokammern erschall, klingt bis heute nach. Mit seinem kleinen Buch hat Hendrik Otremba den rundweg empfehlenswerten Leitfaden für eine große, immer noch einflussreiche Band geschrieben.
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