Im Iran haben die Reformer gesiegt. Jetzt erwarten die Wähler eine demokratische Wende. Die Mullahs werden Widerstand leisten: Die Herde verlässt die Hirten
Als Bill Clinton zwei Wochen vor den Wahlen im Iran die Hoffnung auf einen Sieg der Reformer äußerte, entgegnete ihm Revolutionsführer Chamenei, das iranische Volk werde mit seinem Votum dem US-Präsidenten so hart ins Gesicht schlagen, dass ihm jede Hoffnung auf eine Veränderung im Iran vergehen werde. Mit dem Schlag hat er Recht behalten, nur galt dieser nicht dem US-Präsidenten, sondern ihm selbst und seinen Anhängern.
Siegessicher waren die Islamisten nicht. Daher haben sie bereits im Vorfeld nichts unterlassen, um einen Erfolg der Reformer um Staatspräsident Chatami zu verhindern. Deren Spitzenkandidat Abdollah Nuri wurde in einem Schauprozess zu fünf Jahren Haft verurteilt; über 500 Kandidaten wurden von dem mit Konservativen besetzten Wächterrat zurückgewiesen; kritische Zeitungen wurden verboten; Rundfunk und Fernsehen standen ausschließlich den Islamisten für den Wahlkampf zur Verfügung; Wahlveranstaltungen der Reformer wurden durch Schlägertrupps aufgelöst und die Kandidaten mit dem Tode bedroht. Selbst kritische Geistliche wurden von einem Sondergericht zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Diesen Sanktionen waren bereits Mordanschläge gegen oppositionelle Politiker und Schriftsteller und die brutale Niederschlagung von Studentendemonstrationen vorausgegangen. Trotz dieser Einschüchterungsversuche gingen 83 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen, die absolute Mehrheit stimmte für die Reformer. Führende Köpfe der Islamisten erlitten eine herbe Niederlage, darunter der im Mykonos-Prozess als Drahtzieher der Morde gegen fünf iranische Oppositionelle verurteilte frühere Geheimdienstchef Fallahian. Selbst Ex-Staatspräsident Rafsandschani, der sich als Vermittler zwischen den Fronten und Retter in der Not präsentierte, erhielt eine schmachvolle Abfuhr.
Hätten wir im Iran tatsächlich eine Demokratie, würde der Wahl eine grundlegende Wende folgen. Aber davon sind wir noch weit entfernt. Obwohl die Verfassung der Islamischen Republik zwar scheinbar die parlamentarische Demokratie akzeptiert, hat die Trennung zwischen Staat und Religion noch nicht stattgefunden. Ungeachtet des Volkswillens liegen wichtige Machtinstrumente in der Hand der Islamisten. Da ist der Wächterrat, der jedes vom Parlament verabschiedete Gesetz zurückweisen kann. Da ist der mit absoluter Macht ausgestattete Revolutionsführer, der bei allen Entscheidungen das letzte Wort hat. Die militärischen und paramilitärischen Organisationen, der mächtige Geheimdienst und nicht zuletzt die Justiz stehen unter der Kontrolle der Konservativen. Nahezu die gesamte Wirtschaft wird von mafiösen Konzernen und islamischen Stiftungen beherrscht.
Dennoch hat der Verlust der Parlamentsmehrheit für die Islamisten Konsequenzen, weit mehr aber der Verlust ihrer Basis in der Bevölkerung. Denn im Gegensatz zu anderen Diktaturen sind die Gottesmänner auf die Unterstützung der Massen angewiesen. Mit deren Hilfe haben sie die Macht erobert und in den ersten Jahren der Revolution die Opposition im Land niedergeschlagen; mit deren Hilfe sind sie gegen den Irak in den „Heiligen Krieg“ gezogen; mit Massenaufmärschen haben sie fast zwei Jahrzehnte lang gegen den Westen Feindschaft geschürt – gegen den großen und kleinen Satan USA und Israel, gegen Anwar Sadat, gegen Salman Rushdie. Die in Turban und Umhang verhüllten Herrscher präsentierten sich als Gesandte Gottes; sie predigten an jedem Freitag überall im Land bis zu den entlegensten Dörfern beim gemeinsamen Gebet den Gläubigen, wie diese denken und handeln sollen. Die Wahlen vom 18. Februar signalisieren das Ende dieses Systems von Hirten und Schafen. Statt unter ihnen, stehen nun die Massen den Gottesmännern frontal gegenüber.
Für die Islamisten geht es um alles oder nichts, um ihre Macht, ihre Privilegien und letztendlich auch um ihre Immunität vor gerichtlicher Verfolgung. Daher werden sie die verheerende Niederlage nicht widerstandslos hinnehmen. Theoretisch hätten sie die Möglichkeit, mit massiver Gewalt gegen das Volk vorzugehen, praktisch ist dafür die Zeit längst abgelaufen. Denn die Gefahr, dass im Ernstfall ein großer Teil der Ordnungs- und Militärkräfte die Front wechselt, ist groß. Dieses Risiko werden die Islamisten wohl kaum eingehen. Sie werden eher versuchen, weiterhin die Arbeit der Regierung und nun auch die des Parlaments durch allerlei Tricks und Verschwörungen zu torpedieren. Es ist aber auch sicher, dass manch findiger Mullah lautlos die Seiten wechseln und damit das längst eingesetzte Zerbröckeln der Front der Islamisten beschleunigen wird.
Chatamis Politik orientierte sich bisher genau an diesen Fakten. Sie vermied jede Provokation, die den Konservativen die Handhabe zur Gewaltanwendung liefern könnte. Der Präsident führte einen beharrlichen, zähen, aber den Gegner zermürbenden Kampf, verkündete unermüdlich die Notwendigkeit eines Rechtsstaats, einer „zivilen Gesellschaft“. Es ist erstaunlich, dass die Bevölkerung, wenn auch zähneknirschend, seit drei Jahren diese Taktik und Strategie mitträgt.
Aber jetzt nach den Parlamentswahlen ist eine qualitativ neue Etappe erreicht. Die Legislative und Exekutive befinden sich in der Hand der Reformer. Jetzt erwarten die Wähler endlich konkrete Schritte, sie wollen eine spürbare Wende. Die dringendsten Forderungen sind klar: Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und gegen die himmelschreiende Korruption, Wiederaufbau der ruinierten Wirtschaft, Aufhebung der Zensur, Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung, Unabhängigkeit der Justiz, Einhaltung der Menschenrechte, Zulassung politischer Parteien, Abbau der gravierenden Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen und nicht zuletzt Öffnung nach außen.
Chatami und seine Regierung müssen jetzt handeln. Bleibt es wie bisher bei verbalen Versprechungen, dann ist die Chance zu einem friedlichen Übergang in eine demokratische Gesellschaft endgültig verpasst, dann sind die Tage der Ära Chatami gezählt.
Das Ausland hat das Wahlergebnis ohne Ausnahme euphorisch begrüßt. Einige EU-Außenminister, darunter auch Joschka Fischer, haben für die Reise nach Teheran bereits die Koffer gepackt. Man kann nur hoffen, dass sie nicht nur Wirtschaftsverträge in ihrem Gepäck mitnehmen und nicht nur um die Gunst von Chatami und der Schar der Reformwilligen um ihn werben. Sie sollten die Forderungen der Bevölkerung im Augen behalten – und auch die Tatsache, dass Chatami nicht der Initiator, sondern ein Produkt, gar ein Nebenprodukt einer Widerstandsbewegung ist, die spätestens seit dem Tod Chomeinis begonnen hat und nun zur Blüte gelangt ist.
Bahman Nirumand
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