: Im Betreuungshamsterrad
Ina Weisses Spielfilm „Zikaden“ lässt zwei ungleiche Frauen im Brandenburgischen aufeinandertreffen. Gebaut ist ihr Drama nach architektonischem Vorbild

Von Jens Balkenborg
Es ist einer der vielen sprechenden Momente in Ina Weisses behutsamem Drama „Zikaden“. Anja (Saskia Rosendahl) blickt rauchend auf den Fluss, als Isabell (Nina Hoss) die Fußgängerbrücke passiert. Die zwei Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein, Erstere ist eine impulsive Arbeiterin aus der Provinz, Letztere eine Kosmopolitin aus bildungsbürgerlichem Haus. Obwohl beide nicht rauchen, wie sie sagen, rauchen sie doch eine zusammen: ein kurzer, sehr filmischer Moment des gemeinsamen Innehaltens und Brückenbauens über Stände, Hintergründe und Altersunterschiede hinweg.
Anja wohnt mit ihrer Tochter Greta in dem gesichtslosen, von der Natur umgebenen Örtchen irgendwo in der brandenburgischen Provinz. Sie hält sich mit schlechtbezahlten Jobs über Wasser und versucht, Greta eine gute Mutter zu sein. Maklerin Isabell rotiert zwischen ihrem Leben in Berlin, dem von ihrem Vater entworfenen Wochenendhaus im Dorf, ihrer krisengeplagten Ehe mit dem französischen Mann Philippe (Vincent Macaigne) und den betagten Eltern.
Letztere sind seit dem Schlaganfall des Vaters, einem alten, über alles seinen Schatten werfenden Architekten, auf Pflegepersonal angewiesen. Nach Eva Trobischs „Ivo“ um eine ambulante Palliativpflegerin oder Claudia Rorarius’ „Touched“ über das Verhältnis einer Pflegerin zu ihrem querschnittgelähmten Patienten holt auch „Zikaden“ das Thema Pflege aufs Tablett.
Weisse inszeniert ihren dritten Spielfilm nach eigenem Drehbuch als zum Bersten zurückhaltend erzähltes Drama. Wenige verstehen es, aus der filmischen Ruhe und selbstbewusst gesetzten Leerstellen eine solche Kraft zu ziehen. In ihrem Debüt „Der Architekt“ entwarf sie das dichte Psychogramm einer zerrütteten Familie. Danach ließ die Regisseurin und Schauspielerin mit „Das Vorspiel“ ein Drama um eine ebenfalls von Hoss gespielte Violinistin und Musiklehrerin folgen, die an den eigenen Ansprüchen zerbricht. Die Regisseurin lässt in ihre Filme Konstellationen und Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben einfließen und hat in ihrem neuen Film ihre eigenen Eltern, den Architekten Rolf und die Lehrerin Inge Weisse, besetzt.
In „Zikaden“ beobachtet sie mit einfühlsamem, völlig vorurteilsfreiem Blick, wie sich die beiden Frauen in der sommerlichen Hitze annähern. Ganze gelebte Leben und Enttäuschungen tun sich in Blicken und Gesprächen auf: Isabells Unzufriedenheit mit ihrem Mann, ihr Dasein im Schatten des Vaters, mit Blick auf Greta, der sie näherkommt, auch ein unerfüllter Kinderwunsch. Anja bleibt rätselhaft. Wer ist sie eigentlich und was will sie wirklich? „Du bist schön“, sagt sie einmal, als sie Isabell schwitzend im elterlichen Haus hilft.
Ein Begehren ist den Bildern von Kamerafrau Judith Kaufmann in einigen Momenten fest eingeschrieben, ohne dass es jemals auserzählt würde. Weisses Film selbst ist eine vieldeutige Architektur. „Man kann den Raum auf verschiedene Arten nutzen. Der Architekt wollte nur einen Rahmen geben, und man muss selber sehen, was man damit macht“, erklärt Isabell einmal in ihrer Rolle als Maklerin: ein Satz, der auch auf den fein gebauten Film komplett zutrifft.
Peu à peu entwickelt sich „Zikaden“ zu einem transgenerationalen Porträt von Eltern-Kind-Beziehungen in verschiedenen Lebensstadien. Isabell organisiert wechselnde Pflegekräfte aus dem Ausland und schlägt sich mit ihrem alten Herrn herum, der an seinem Wochenendhaus hängt. „Das ist mein Entwurf, den verkauf ich nie“, grummelt er seine Tochter mit angeschlagener, genuschelter Stimme an.
Anja wohnt mit der Tochter zur Untermiete bei einem alten Ehepaar und beginnt, auf einer Bowlingbahn zu jobben. Komplementiert wird das Bild durch die kindliche Perspektive, die der Film immer wieder einnimmt, wenn er Greta und ihren Freunden auf ihren Steifzügen durchs Dorf und bei kleinem und gewaltigem Unfug folgt. Dass der Schrecken immer mit weht, suggeriert gleich die erste Filmszene, in der Anja ihre Tochter in einem Tierkadaver stochernd vorfindet.
„Zikaden“ ist ein Film der Zwischentöne, der von den fantastischen Hauptdarstellerinnen getragen wird. Rosendahl wirkt mit ihrer zwischen Unsicherheit und Stärke changierenden Impulsivität, als sei sie aus Sabrina Sarabis feinsinnigem Drama „Niemand ist bei den Kälbern“ in Weisses Film hineingefallen. Und Hoss spielt wieder intensiv eine innerlich aufgewühlte, nach außen um Fassung ringende Frau.
Auch wenn die Hintergründe ihrer Figuren sehr unterschiedlich sind, so sind beiden Frauen im Betreuungshamsterrad doch zusammengeschweißt als Getriebene, deren eigene Sehnsüchte wenig Platz hatten und haben. Dass Weisse dieser Beziehung die Ambivalenzen nicht nimmt, macht „Zikaden“ umso eindrücklicher. Das führt nämlich am Ende des Films zu zwei Szenen, die lange nachhallen: Momente, in denen sich ohne Worte, nur mit ausgetauschten Blicken, ganze Welten auftun.
„Zikaden“. Regie: Ina Weisse. Mit Nina Hoss, Saskia Rosendahl u. a. Deutschland/Frankreich 2025, 100 Min.
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