Illegale Abtreibungen in den 70ern: Ihr Codewort war „Picknick“
Eine Gruppe junger Linker nahm in den 70ern illegale Abtreibungen vor. Erstmals reden nun vier der Frauen darüber.
Anfang der siebziger Jahre wurden Schwangerschaftsabbrüche in der Bundesrepublik verfolgt. In einer westdeutschen Universitätsstadt gründeten junge Linke eine Gruppe, die heimlich Abtreibungen vornahm. Sie trafen sich dafür in WG-Zimmern, benutzten Codewörter und umgebaute Fahrradpumpen. Vierzig Jahre später haben wir vier Frauen der Gruppe zusammengebracht: Dora und Christiane, die damals Medizin studierten – und Gela und Beate, die einen Abbruch bei ihnen hatten. Zum ersten Mal sprechen sie öffentlich darüber.
Die Frauen möchten anonym bleiben. Dora und Christiane, die als Ärztinnen gearbeitet haben, sind heute im Ruhestand. Trotzdem fürchten sie noch, ihre ehemaligen KollegInnen in Bedrängnis zu bringen: Die Zahl der ÄrztInnen, die heute Schwangerschaftsabbrüche durchführen, nimmt ab. Und viele derjenigen, die Abbrüche vornehmen, sind Anfeindungen von AbtreibungsgegnerInnen ausgesetzt.
Als wir uns im Juni in der Wohnung einer der vier Frauen treffen, sprechen wir fast sechs Stunden. Auf dem Wohnzimmertisch sind Erinnerungsstücke ausgebreitet: medizinische Instrumente, Schwarzweißfotos und Hefte mit Aufzeichnungen über den weiblichen Zyklus.
Gela: Als ich 1970 das erste Mal schwanger wurde, war ich 20. Ich war in der Ausbildung und viel zu jung, mein Freund war Student, ich wollte das Kind nicht. Die Gruppe um Dora und Christiane gab es noch nicht. Aber ein Arzt in der Nähe machte Abbrüche. Man wusste, dass es solche Ärzte gab, aber offizielle Sprechstunden hatten die natürlich nicht. Alles war ganz mysteriös.
Christiane: Für eine Abtreibung drohte ja nicht nur den Schwangeren eine Strafe, auch auf Durchführung und Beihilfe standen mehrere Jahre Gefängnis.
Gela: Ich bin da also mit dem Kindsvater hin, und der Arzt sagte, er könne momentan gar nichts machen, er sei unter Beobachtung.
Dora: Ich weiß noch, dass ich irgendwann Mitte der Siebziger vorm Bahnhof stand und Flugblätter verteilt habe. Damals war genau dieser Arzt erschossen worden, und alle hatten Angst, dass jetzt die Kartei mit den Namen seiner Patientinnen gefunden wird.
Gela: Ich hab dann meiner Mutter erzählt, dass ich keinen Ausweg weiß. Sie war sehr solidarisch mit mir, sie hatte nach dem vierten Kind selbst abgetrieben, mit einem alten Hebammentrick, wie es hieß. Ihre Mutter hatte ihr dabei geholfen. Das haben wir bei mir also auch probiert.
Christiane B., 66, hat bis 2017 als Allgemeinmedizinerin gearbeitet. Sie hat einen Sohn. Nachdem sich die Gruppe aufgelöst hatte, hat sie nie wieder einen Schwangerschaftsabbruch durchgeführt.
Dora M., 67, hat bis 2017 als niedergelassene Gynäkologin gearbeitet und dabei auch Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Sie hat eine Tochter.
Gela B., 69, hat im Kindergarten, als Masseurin und 18 Jahre lang als Grundschullehrerin gearbeitet. Sie hat einen Sohn.
Beate W., 64, ist im Bereich sozialer Arbeit tätig. Sie hat keine Kinder, aber eine Katze.
Christiane: Als Medizinstudentinnen wussten wir damals, dass immer mal wieder Frauen nach einer illegalen Abtreibung in die Kliniken kamen. Frauen, die einen Abbruch hatten, der nicht vollständig war, oder eine Gebärmutterentzündung.
Gela: Meine Mutter hat einen runden, ummantelten Gummi besorgt, mit dem man eigentlich die Arme und Beine von Puppen an deren Körpern befestigt hat. Ich hab versucht, den Gummi in meinen Muttermund reinzudrücken. Bestimmt vier Stunden lang, immer wieder, das war wirklich grausam. Die Theorie war: Wenn der Muttermund durch den Gummi geöffnet wird und so Luft reinkommt, löst sich der Embryo ab. Es hat nicht funktioniert, alles war wund. Ich war wirklich verzweifelt.
Beate
Christiane: Es gab auch Gynäkologen, die illegale Abbrüche technisch gut gemacht haben, als Typen aber unmöglich waren. Die haben die Frau zur Sau gemacht oder gequält.
Gela: Ich bin dann zum Asta gegangen und hab gefragt, wo die Frauen hingehen, die ungewollt schwanger werden. Das waren nur Männer dort, die getan haben, als sei ich ’ne Schwerverbrecherin. Sie sagten, da gibt es zwei Möglichkeiten: die teure Variante England und die günstige Variante Jugoslawien, ein sozialistisches Land, wo Abtreibungen eigentlich unproblematisch waren. Holland kam erst später.
Dora: Dort konnten ungewollt Schwangere aus Deutschland ab 1971 eine Abtreibung bekommen.
Gela: Meine Mutter und ich sind also nach Jugoslawien gefahren. Ljubljana war wirklich crazy. Der Typ hat uns im Dunkeln vor der Klinik getroffen und wollte als Erstes das Geld. Ich sollte am nächsten Tag ohne meine Mutter wiederkommen, hat er gesagt, und das Gesicht von dem Menschen, der den Abbruch macht, dürfe ich nicht sehen. Der trage so eine Art Maske. Meine Mutter hat gleich gesagt, das machen wir nicht. Wir hatten noch eine zweite Adresse in Zagreb, wo ein Paar in seiner Praxis Abtreibungen gemacht hat. Ich hatte eine Vollnarkose, aber hab noch was mitbekommen. Mir ist die ganze Zeit irgendwas unten rausgetropft, vielleicht war es Gewebe, das ausgeschabt wurde. Ich hab das Geräusch noch im Ohr, das war so ein dunkles Blubb-blubb.
Dora
Christiane: Grausig.
Gela: Zusammen hat das bestimmt drei, vier Tage gedauert und viel Geld gekostet. Danach war ich einfach nur glücklich, dass es vorbei war. Meine Mutter hat gesagt, jetzt musst du langsam machen, dich schonen und so. Aber ich dachte, nee, nee, und bin mit meinem Freund direkt in die Disko.
Christiane: Wir haben im Winter 1975 mit den Schwangerschaftsabbrüchen angefangen. Damals war ich 23 und studierte Medizin. Dora und ich hatten uns an der Uni kennengelernt, dort bin ich auch in die politischen Gruppen reingerutscht. Ich war eher so auf der Sponti-Seite. In den Semesterferien hab ich zum Geldverdienen in der Gynäkologie gearbeitet, als Pflegehelferin. Wir wussten natürlich, dass die Abbrüche ein Risiko waren: Unser künftiger Beruf als Ärztinnen stand auf dem Spiel. Außerdem war der Paragraf zur Bildung einer kriminellen Vereinigung ständig Thema. Es war ja die Zeit der RAF-Verfolgung.
Dora: Natürlich macht es was mit einem, dass man illegal arbeitet. Ich hatte schon paranoide Gedanken, dass wir mal auffliegen. Wir kannten die Frauen ja nicht, die zu uns kamen. Wir hatten Angst, abgehört zu werden, und haben nur Telefonzellen benutzt, um mit den Frauen zu sprechen. Gleichzeitig fühlten wir uns eingebettet in die linke Bewegung. Ich dachte, wenn was passiert, stehen die Massen vor dem Gefängnis und rufen: „Lasst die Dora frei!“
Christiane: Wir waren die Generation der Nach-68er und ständig auf Demos. Vietnam war noch nicht lange her, Krieg, Atomkraft, Überbevölkerung … Wir lebten im Überfluss, während anderswo die Menschen hungerten.
Dora: Die Welt war schlecht, und wir waren alle ein bisschen depressiv. Das war so die Grundstimmung unter den Linken: hängende Mundwinkel.
Christiane: Viele sagten, in diese Welt muss man nicht noch Kinder setzen.
Gela
Beate: Aber aus den Schlechtigkeiten ist viel entstanden, die Frauen-, Schwulen- und die Anti-Atom-Bewegung, Wohngemeinschaften, Krabbelgruppen. Und unser Kampf um den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen.
Dora: Anfangs haben wir bloß Frauen beraten und sie mit Klinikadressen in Holland versorgt. Irgendwann dachten wir: Warum jede einzeln? Also haben wir Busfahrten organisiert. Der erste Bus 1975 war wie eine Demo, mit Plakaten und von der Presse begleitet.
Christiane: Aber dafür musstest du Verbindungen haben, du musstest Geld haben. So ein Abbruch in Holland hat damals 200 bis 300 Mark gekostet. Du musstest Zeit haben, wegzufahren.
Dora: Wir haben dann einmal die Woche etwa 20 Schwangere aus der Region nach Holland gebracht. Das war Stress, man musste um vier Uhr aufstehen. Wir sind in eine Tagesklinik gefahren, in der Nähe von Den Haag. Während wir auf die Frauen gewartet haben, konnten wir manchmal für zehn Minuten die Füße ins Meer hängen. Irgendwann sagten einige in der Gruppe: Das müssen wir doch auch selbst können.
Christiane: Unser Codewort für die Frauen war „Picknick“. „Am Samstag um 11 Uhr, wir treffen uns bei dir.“ Der Korb mit unseren Instrumenten war der „Picknickkorb“. Das war so ein großer geflochtener Handarbeitskorb, den konnte man aufklappen, da war das ganze Zeug drin. Die Instrumente, die Schüssel für das Gewebe, das hat ganz schön geklappert beim Transport.
Dora: Diese Horrorgeschichten mit den Stricknadeln, die Frauen in ihre Gebärmutter einführen, um selbst abzutreiben, waren da schon nicht mehr so präsent – es gab dann ja Holland.
Christiane: Uns ging es um Frauengesundheit, wir wollten konservativen Frauenärzten etwas entgegensetzen.
Christiane
Dora: Ich war der Meinung, die Frauenbewegung braucht Frauenärztinnen. Wir hatten Verbindungen zur linksradikalen Frauengruppe „Gruppe Brot und Rosen“ nach Berlin, und zu Consciousness-Rising-Gruppen in Deutschland und den USA.
Christiane: Wir haben uns also selbst untersucht, mit dem Spekulum, haben Aufzeichnungen gemacht und Tabellen geführt.
Beate: Ich habe noch alte Tagebücher, in denen ich mir genau notiert habe, wie mein Zyklus abgelaufen ist. Zum Beispiel: Der Muttermund ist leicht geöffnet, weißer Schleim.
Christiane: Es ging darum, einen Zugang zum eigenen Körper zu bekommen. Wir haben das in der Gruppe gemacht, saßen zusammen auf dem Boden oder auf Matratzen. Der weibliche Körper war noch tabu, man hat nicht so genau hingeguckt, und die Gynäkologen waren überwiegend Männer.
Dora: Es gab überhaupt keine Worte. Man hat nur „da unten“ gesagt.
Beate: Es gab total viele Auseinandersetzungen zwischen Männern und Frauen. Da ging es um die Entwicklung einer eigenen Identität, um Selbstbewusstsein und Selbstbehauptung. Die Frauen haben ihre Meinung gesagt, wurden aber einfach übergangen. Ständig gab es Diskussionen mit den Männern, auch den Liebschaften, die man hatte. Die Frauengruppen waren dazu da, dass wir uns frei äußern konnten.
Gela: Männer hatten damals eine absolute Übermacht. Die waren überall, saßen in allen wichtigen Positionen. Alles, was wir durften, war Zuhören.
Christiane: Abtreibungen machen war natürlich viel sensibler als Selbstuntersuchungen. Wir haben uns sehr zurückhalten müssen und konnten nicht laut sagen, was wir tun. Es gab kein Internet, kein Handy, nur Mundpropaganda. In den entsprechenden Kreisen waren wir bekannt, sonst hätten die Frauen uns ja nicht gefunden. Meist haben wir die Abbrüche zu dritt gemacht, dazu natürlich die Frau und eine Freundin von ihr.
Beate: Ich weiß nicht mehr viel von meinem Abbruch, nur, dass es in meiner WG war. Das war gut für mich, ein guter Ort. Es ist eine Entscheidung, so eine Schwangerschaft abzubrechen. Ich hatte schon den Wunsch, eine dauerhafte Beziehung mit einem Mann aufzubauen, aber mit dem damaligen war das nicht möglich. Wir hatten in der WG keine eigenen Zimmer, sondern haben alles gemeinsam genutzt. Man konnte in jedem Zimmer schlafen. Ein Zimmer war vom Bett her am geeignetsten für den Abbruch, von der Position her.
Christiane: Ich war bei Beate auf jeden Fall dabei. Aber ich weiß nicht mehr, ob ich den Abbruch selbst gemacht oder nur geholfen habe. Da sieht man, wie tief ich das verdrängt habe.
Beate: Eine meiner Mitbewohnerinnen hat mir fest die Hand gedrückt.
Dora: Wir hatten eine Fahrradpumpe, eine Frau musste neben dem Bett stehen und auf Kommando pumpen. Mal mehr, mal weniger. Das war so eine Pumpe, auf der man stehen konnte, wir hatten die umgebaut. Die war mit einem Schlauch verbunden, der in eine Flasche mit zwei Öffnungen führte, an der anderen Seite war der Absaugschlauch. Das Gewebe floss dann in die Glasflasche oder eine Schüssel mit Wasser. Das haben wir uns hinterher genau angesehen, um sicherzustellen, dass die Fruchtblase vollständig und die Plazenta raus ist. Dann musste man fühlen, ob die Gebärmutter ganz leer ist.
Beate: Man wurde gefragt, ob man sich das ansehen möchte. Ich hab es mir angeschaut, ich hab darüber auch Abschied genommen.
Dora: Am Ende haben wir das Gewebe ins Klo gekippt. Wir haben Abbrüche bis zur zehnten Woche gemacht. Ganz genau konnte man das gar nicht bestimmen, manchmal war die Schwangerschaft doch weiter. Dann wurde es schwer mit dem Absaugen, wenn die Kanülen nicht weit genug waren.
Christiane: Die Instrumente haben wir teils aus den Kliniken geklaut, die Spekula, Zangen und so. Irgendwer hat immer irgendwo etwas abgegriffen. Die Kanülen haben wir in den USA bestellt. Das war schwierig, wir konnten ja nur wenige bestellen. Die waren teuer, und es sollte nicht auffallen. Wir haben sie also sterilisiert und mehrfach benutzt. Erst wenn sie rau wurden, haben wir sie weggeschmissen. Das finde ich heute problematisch und würde es unter hygienischen Aspekten nicht mehr machen. Zur Dehnung des Muttermunds haben wir Bougierstifte verwendet, die zur Harnröhrenweitung bei Männern benutzt werden. Die Instrumente haben wir vor dem Einsatz mit Alkohol übergossen und abgebrannt, das Plastikmaterial in desinfizierende Lösungen gelegt.
Dora: Wir haben uns in Lehrbüchern kundig gemacht, wann Bakterien absterben, wie lange es dafür wie heiß sein muss.
Christiane: Bei jedem Eingriff musste eine Person dabei sein, die medizinisch vorgebildet war. Ich war einmal in der Woche an der gynäkologischen Ambulanz, da habe ich bei einer sehr netten Kollegin viel gelernt – zum Beispiel, wie man sicher untersucht. Das war sehr wichtig. Oder auch das Anhaken des Uterus mit der Zange, damit er nicht wegrutscht. Ich erinnere mich, dass ich das unangenehm fand, das tut ja auch der Frau weh.
Dora: Und dieses „Klack“-Geräusch …
Christiane: Wir wollten von den Ausschabungen weg. Es gab ja jetzt die schonendere Absaugmethode und wir haben nicht eingesehen, dass die für Frauen in Deutschland nicht zugänglich sein sollte. Dora und ich sind im März 1976 nach Rom gefahren, um da in einer Gruppe zu lernen, die mit den italienischen Linken von Lotta Continua verknüpft war. Da gab es einmal die Woche Veranstaltungen, bei denen Frauen sich anmelden konnten, um dann auf verschlungenen Wegen in irgendwelche alten Villen gefahren zu werden, in denen die Abbrüche gemacht wurden.
Dora: Was wir gemacht haben, war okay. Obwohl ich inzwischen so viele Jahre unter dem Einfluss der Schulmedizin hinter mir habe, schaue ich nicht mit Entsetzen auf meine Vergangenheit. Wir hatten Regeln und Standards und ich denke: Ja, das kann man machen.
Christiane: Die Angst, dass etwas schiefgeht, war trotzdem immer da.
Dora: Wir hatten nur eine einzige medizinische Komplikation. Eine aus unserer Gruppe, die den Eingriff damals gemacht hat, hat etwas getan, das gegen unsere Regeln verstieß: einen Abbruch bei einer Frau, die seit mehreren Tagen blutete. Weil ja auch medizinische Laiinnen in der Gruppe waren, war Konsens, dass wir nur etwas machen, wenn alles in Ordnung ist. Wenn die Frau schon blutet, kann es sein, dass die Gebärmutter so butterweich ist, dass man etwas kaputt macht. So war es dann: Sie hat die Gebärmutterwand durchstoßen, und die Frau musste ins Krankenhaus. Für die Frau aus unserer Gruppe, der das passiert ist, war das so schlimm, dass sie keine Abbrüche mehr machen wollte.
Christiane: Die Frau, die den Abbruch hatte, hat das überstanden. Aber wegen solcher Risiken waren wir sehr streng in der Auswahl, wer bei uns eine Abtreibung bekommen kann. Es durfte keine Komplikationen gegeben haben, und wir haben die Frauen gründlich untersucht: Wie groß ist die Gebärmutter, wo liegt sie. Ultraschall gab es noch kaum. Wenn wir nach dem Tastbefund und der Anamnese der Meinung waren, dass wir es nicht risikolos machen können, haben wir es nicht gemacht.
Beate: Nach meinem Abbruch wurde ich selbst Teil der Gruppe. Das war der Wunsch, das Konzept: dass wir das selbst lernen, auch die medizinischen Laien. Ich fand das gut. Später habe ich selbst Abbrüche gemacht, das war natürlich ein Lernprozess – die Zange in den Muttermund zu setzen, ihn zu weiten, und dann das Absaugen. Das ging ganz langsam, wir mussten ja am lebenden Objekt lernen. Es war auch eine Entscheidung, zu sagen, jetzt fühle ich mich sicher genug. Beim ersten Mal hatte ich das Gefühl, eine sehr, sehr große Verantwortung zu tragen.
Gela: Ich hatte noch ein zweites und drittes Mal selbst einen Abbruch, da war ich schon Teil der Gruppe. Mit der Pille hatte ich im Zuge der Frauenbewegung wegen der Nebenwirkungen aufgehört und hab mit Diaphragma verhütet oder mit Kondomen. Die hat man aber selten eingefordert. Die Männer haben von sich aus nichts getan, das war Frauensache. Man hat überhaupt nicht darüber gesprochen. Als die zweite Schwangerschaft passiert ist, wusste ich genau, heute kann ich keinen Sex haben, aber ich hab mich nicht getraut zu sagen, dass er ein Kondom nehmen muss. Christiane war bei beiden Abbrüchen dabei. Beide haben in meinem Zimmer stattgefunden, in einer gemischten Achter-WG. Im Vergleich zu Jugoslawien war alles wunderbar. Die Männer haben etwas Schönes gekocht, die Frauen die Abtreibung gemacht.
Christiane: Der Mann durfte nur dabei sein, wenn die Frau das wollte und wir ein gutes Gefühl mit ihm hatten. Es gab ja auch Frauen in Gewaltsituationen. Einmal hatten wir richtige Probleme, weil es länger dauerte. Plötzlich kam der Mann und wollte in die Wohnung, er hat an die Tür gehämmert – durfte aber auf keinen Fall wissen, was da gerade passierte. Wir machten eine Pause, waren ganz still und haben so getan, als ob niemand da wäre. Wir hatten fürchterliche Angst.
Gela: Mir ist vor lauter Schreck eine Linse aus dem Auge gesprungen. Wir hatten auch Angst, dass er die Polizei ruft.
Christiane: Irgendwann verschwand er, und wir konnten den Abbruch noch beenden.
Beate: Für viele Frauen, die keinen Zugang zu Gruppen wie unserer hatten oder kein Geld, waren ungewollte Schwangerschaften eine Katastrophe. Alleinstehend schwanger, und das vielleicht noch auf dem Land – Katastrophe. Wenn du Geld hattest, gab es wenigstens noch Holland, aber das merkt in so einem Dorf ja jeder, wenn du drei Tage weg bist. Oder du bist halt in die nächste Kleinstadt gefahren und hast dir einen gesucht, der das auf dem Küchentisch gemacht hat, wie es hieß. Aber das war nicht nur illegal, sondern auch gefährlich; scheiße.
Christiane: Später hab ich eine Zeit lang als Ärztin bei Pro Familia gearbeitet. Da musste ich mich sehr zurückhalten, wenn über illegale Abbrüche und über feministische Aktivistinnen diskutiert wurde. Denn wir haben ja auch illegale Abtreibungen gemacht. Aber anders als viele Pfuscher im Hinterzimmer haben wir versucht, es für die Frau so gut wie möglich zu gestalten. Es war geheim, aber die Frauen durften aussuchen, wer dabei war, wann und wo es passiert.
Dora: Wir haben immer sauber und steril gearbeitet. Wir haben keine Infektionen verursacht, kannten die Anatomie und wussten, wo wir mit dem Röhrchen rein- und wann wir aufhören müssen. Das ist bei den Küchentischabtreibungen oft schiefgegangen. Ein anderer wichtiger Unterschied war, dass die Entscheidung der Frau, jetzt kein Kind zu wollen, in unserer Gruppe akzeptiert war.
Gela: Und dass es umsonst war. Also auf Spendenbasis, weil die Kanülen ja bezahlt werden mussten. Ich selbst hab dann nur eine einzige Abtreibung gemacht, aber ich war bei ungefähr zehn dabei.
Dora: Ich hab vielleicht 20, 30 illegale Abbrüche gemacht.
Christiane: Wir haben sehr umfassend aufgeklärt und den Frauen gesagt, worauf sie achten müssen. Wir haben allen Antibiotika gegeben, und für den Fall, dass sie Fieber bekommen hätten, hätten sie gewusst, was sie wann nehmen sollten. Wir kannten an zwei oder drei Krankenhäusern linke Ärzte, an die hätten wir uns in Notfällen wenden können.
Dora: Am Folgetag und zwei Wochen später haben wir dann noch mal telefoniert. Getroffen haben wir die Frauen allerdings nicht noch mal. Es sei denn, sie wollten in der Gruppe mitmachen.
Christiane: Direkt hinterher haben wir aber immer noch zusammengesessen und etwas gegessen. Das war schön für alle. Das war so ein Moment des Aufatmens.
Gela: Ich find toll, was wir gemacht haben. Trotzdem war ich froh, als es 1978 dann vorbei war. Das war trotz allem belastend.
Dora: Du konntest ja auch nur mit ausgewählten Freunden darüber reden, nur mit ganz wenigen. Den meisten Menschen konntest du gar nicht erzählen, womit du dich beschäftigst.
Gela: Die Gruppe ist dann einfach eingeschlafen.
Dora: Es gab ja so langsam auch bei den Ärzten in Deutschland bessere Methoden, das Absaugen setzte sich mehr und mehr durch. Und vor allem war ab 1976 ein straffreier Schwangerschaftsabbruch auch bei sozialer Notlage der Frau möglich. Vorher ging das nur aus medizinischen Gründen, nach einer Vergewaltigung oder bei einer Behinderung. Pro Familia stieg in die Schwangerschaftskonfliktberatung ein, und allmählich konnten Frauen einen guten Abbruch in einer angemessenen Zeit bekommen.
Christiane: Als wir aufgehört haben, hatten wir noch die Kanülen. Wir hatten Angst, dass sie jemand im Müll entdeckt, wenn wir sie einfach wegwerfen. Also haben wir die peu à peu zerschnitten. So tief saß die Angst, doch noch erwischt zu werden. Wir haben danach auch nie darüber gesprochen.
Dora: Aber heute denke ich: Wir können das doch nicht mit ins Grab nehmen.
Christiane: Dass ich mich so schlecht erinnere, liegt ja nicht nur an den vierzig Jahren, die seitdem vergangen sind. Ich musste meine illegale Zeit verdrängen. Bei Pro Familia gab es Leute, bei denen ich gern gewollt hätte, dass sie es wissen – aber es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn das rausgekommen wäre. Dann war es lange nicht mehr so ein relevantes Thema für mich. Nur bei Umzügen habe ich mich immer mal gefragt, wo ich jetzt diesen Picknickkorb hintue. Er stand noch lange hinten im Schuppen. Vor zehn Jahren habe ich ihn weggeschmissen.
Dora: Politisch waren wir natürlich ein bisschen naiv. Wir dachten, wir fangen an, und dann breitet sich das aus, und irgendwann machen alle selbst Abtreibungen. Das war die Stimmung, davon waren wir getragen. Wir waren Teil der Bewegung, die den Paragrafen 218 abschaffen wollte.
Gela: Ein radikaler Teil.
Dora: Ein klandestiner Teil.
Beate: Ich liebe es, aktiv etwas anzupacken.
Dora: Frauen nehmen ihr Leben selbst in die Hand – das war die Devise.
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