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Idlib, Syriens letzte Rebellen-EnklaveMit Graffiti gegen den Terror

Die Provinz Idlib ist die letzte, die noch von Rebellen gehalten wird. Zivile Organisationen wehren sich gegen die zunehmende Macht von Islamisten.

Ein Marktplatz in der Marraat Misrin nach einem Luftangriff Foto: reuters

Berlin taz | Angefangen haben sie als Gesundheitsamt auf Rädern. In einem Krankenwagen fuhren Dr. Munzer Khalil und zwei Kollegen 2013 durch die Provinz Idlib – ein Büro sei zu gefährlich gewesen, erzählt der Leiter des Gesundheitsamtes bei einer Konferenz der Union der medizinischen Versorgungs- und Hilfsorganisationen (UOSSM) in Berlin. Schließlich bombardiere das Regime von Präsident Baschar al-Assad gezielt medizinische Einrichtungen, um die Gesundheitsversorgung in oppositionellen Gebieten zusammenbrechen zu lassen.

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Viele der 107 Krankenhäuser, die laut Unicef im ersten Halbjahr 2017 angegriffen wurden, liegen im Nordwesten des Landes. Nicht mitgerechnet das auf chirurgische Notfälle spezialisierte Hama/Central-Sham-Krankenhaus, das nach einem Raketenangriff am 26. September schließen musste, und die Al-Tah-Geburtsklinik bei Maarat al-Numan, deren Säuglingsstation am 19. September zerstört wurde.

Dennoch entwickelte sich das Gesundheitsamt Idlib zu einer erfolgreichen Behörde. Seit dem Rückzug der Assad-Truppen aus der gesamten Provinz im Jahr 2015 kümmern sich Dr. Khalil und sein Team um 3 Millionen Einwohner, darunter 800.000 Binnenflüchtlinge, die vom Regime aus anderen Regionen vertrieben wurden. Mit 48 Krankenhäusern, 533 Ärzten und 1.275 Krankenschwestern ist das Gesundheitsamt die größte zivile Organisation im Nordwesten Syriens.

Derart wachsen konnte die Behörde nur dank der Unterstützung von UOSSM. Die 2012 von syrischen Ärzten im Ausland gegründete Nichtregierungsorganisation ist innerhalb und außerhalb Syriens gut vernetzt, sie gilt als effektiv und glaubwürdig. Entsprechend beliebt sind die Mediziner bei ausländischen Geldgebern, die in Syrien humanitär helfen wollen, ohne damit das Regime zu stärken oder indirekt radikale Kämpfer zu finanzieren. Auch die Bundesregierung unterstützt UOSSM mit 8 Millionen Euro.

Idlib gilt aus westlicher Sicht zunehmend als „Terrorprovinz“

Doch die Gelder für Idlib drohen zu versiegen. Die größte der vier von Russland, Iran und der Türkei festgelegten Deeskala­tions­zonen wird in weiten Teilen von dem extremistischen Bündnis Hayat Tahrir al-Sham (HTS) kontrolliert, das sich im Januar 2017 aus verschiedenen islamistischen Milizen im Norden Syriens gründete. Stärkste Fraktion ist die ehemalige Nusra-Front. Damit gilt Idlib aus westlicher Sicht zunehmend als „Terrorprovinz“ und nicht mehr als unterstützungswürdiges oppositionelles Gebiet. Die Menschen im Nordwesten fürchten, wie die Bewohner früherer IS-Gebiete im Bombenhagel der internationalen Gemeinschaft zu enden. Dabei zeigt sich gerade in Idlib, dass die Stärkung ziviler Strukturen ein effektives Mittel im Kampf gegen den Terror ist.

Tatsächlich dominiert HTS die Provinz vor allem militärisch. Andere Rebellengruppen wie die ehemals mächtige Ahrar al-Sham haben sich der Allianz entweder angeschlossen oder sind deutlich geschwächt. Doch mit Waffen allein lässt sich ein Gebiet nicht regieren, das wissen auch die Dschihadisten. Was sie brauchen, ist die Unterstützung der Bevölkerung.

Diese war in Idlib schon immer arm und konservativ – nach sechs Jahren Krieg sind drei von vier Bewohnern auf humanitäre Hilfe angewiesen. Wer also Nahrungsmittel und Medikamente verteilt, wer Strom und Wasser liefert, für Sicherheit sorgt und sich um die Menschen kümmert, wird diese für sich gewinnen.

Wer Nahrung und Medikamente verteilt, wird die Menschen für sich gewinnen

Ähnlich wie der „Islamische Staat“ (IS) bemüht sich HTS deshalb um den Aufbau von Strukturen. Sie gründete die „Zivile Verwaltung für öffentliche Dienstleistungen“, um be­stehende lokale Räte oder zivilgesellschaftliche Organisationen zu überwachen und zu ersetzen.

Dabei geht HTS weniger brutal vor als der IS – statt Institutionen gewaltsam zu übernehmen und politische Gegner öffentlich hinzurichten, versucht es HTS mit Einschüchterung und Unterwanderung. Das klappt jedoch nicht immer, zeigt eine Studie des syrischen Soziologen Haid Haid für den Verein „adopt a revolution“. Haid, der am Londoner King’s College forscht, untersuchte, wie die Zivilgesellschaft im Norden Syriens den Extremismus bekämpft.

Ziviler Widerstand erfordert manchmal Kompromisse

Das Ergebnis: Orte mit einer gut funktionierenden lokalen Regierung, verlässlichen öffentlichen Dienstleistungen und engen Verbindungen zwischen Zivilgesellschaft und Verwaltung können den Einfluss der Dschihadisten am besten abwehren. In Maarat al-Numan etwa demonstrierten die Bewohner 2016 mehr als 100 Tage lang gegen eine HTS-Vorgängermiliz, im Februar 2017 gingen sie unter dem Motto „Kein Platz für al-Qaida in Syrien“ auf die Straße.

Manchmal erfordert ziviler Widerstand auch Kompromisse. In Kafranbul, seit Ausbruch der Revolution bekannt für seine politischen Karikaturen, stürmte die Nusra-Front im Januar 2016 die Radiostation Radio Fresh FM. Sie konfiszierte Geräte und nahm den Manager des Senders vorübergehend fest mit der Begründung, das Senden von Musik sei „haram“. Radio Fresh FM machte weiter – zwischen den Wortbeiträgen senden die Aktivisten jetzt Tierstimmen.

„Wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt“, sagt Mustafa, ein freiberuflicher Trainer im Bereich Friedensarbeit, in Haids Studie. Der Widerstand gegen Assad und den IS sei eine Art „training on the job“ gewesen und habe sie auf die Konfrontation mit HTS vorbereitet. Die Demonstrationen werden über geschlossene Gruppen in sozialen Netzwerken oder Nachrichtendienste wie What’sApp organisiert. Im Optimalfall sind die Initiatoren nicht eindeutig zu identifizieren und dadurch vor Verfolgung geschützt. Zwar richten sich die meisten Proteste noch immer gegen das Regime, aber wer in Idlib für Freiheit und Menschenrechte demonstriert, zeigt auch den Dschihadisten, dass sie die Einheimischen nicht kontrollieren können.

Tatsächlich lässt HTS die Demonstranten meist gewähren, um eine direkte Konfrontation mit den Bewohnern vor Ort zu vermeiden. Auseinandersetzungen mit der Bevölkerung seien militärisch nicht zu gewinnen, das wisse auch HTS, wird Kareem, ein Trainer für Menschenrechte, zitiert. Umso wichtiger ist es laut Haid, die Menschen zu mobilisieren, indem man langfristig ein politisches Bewusstsein schafft, ihnen die Angst nimmt, sie zu Geschlossenheit aufruft und für die Arbeit ziviler Institutionen gewinnt.

Gefährlich ist der Kampf um den öffentlichen Raum

Satire und Graffiti sind dabei genauso wichtig wie demokratische Mitbestimmung. Aktivisten versehen HTS-Propagandavideos mit sarkastischen Kommentaren und machen die Dschihadisten in Karikaturen und Texten lächerlich. Humor sei eine mächtige Waffe, meint Aktivist Fares, der eine Initiative zur Stärkung lokaler Institutionen leitet. „Diktatoren und Dschihadisten herrschen durch Angst, aber Menschen haben keine Angst vor etwas, über das sie sich lustig machen können.“

Gefährlicher als Satire im Netz ist der Kampf um den öffentlichen Raum. Wie das Regime mit seinen Assad-Porträts und Fahnen versucht auch HTS mit Logos und Slogans seine territoriale Kontrolle zu untermauern. Symbole strahlten Macht aus und seien deshalb nicht zu unterschätzen, erklärt Trainer Mustafa.

Die größte Konkurrenz sieht HTS in den lokalen Räten. Um diese vor dem Übergriff durch die Dschihadisten zu schützen, brauchen sie die lokale Bevölkerung. In Saraqib halfen zivilgesellschaftliche Organisationen bei der Wahl des lokalen Rates. Als HTS direkt danach die Stadt besetzte, demonstrierten Einwohner so lange, bis die Dschihadisten abzogen. HTS kehrte jedoch zurück und übernahm die Stromversorgung der Stadt.

Das Beispiel zeigt, dass ziviler Widerstand an Grenzen stößt. Er könne eine Terrorgruppe nicht besiegen, schreibt Haid, aber ihren Einfluss eindämmen. Frauen müssten besser beteiligt werden, fordert er, auch weil sie die Rekrutierung von Jugendlichen durch radikale Gruppen verhindern könnten. Bei der UOSSM-Konferenz in Berlin erzählt Raifa Samia, wie das gelingt. Die 45-Jährige gründete 2015 die Frauenorganisation Barakat Amal („Hoffnungsschimmer“). Mit etwa 100 Freiwilligen kümmert sie sich in Idlib um geflüchtete und alleinstehende Frauen. „Wir stärken sie, bieten ihnen eine Ausbildung an, damit sie ihre Kinder versorgen und zur Schule schicken können“, sagt Samia. Sonst landeten diese bei einer der Milizen, um mit dem Sold die Familie zu finanzieren.

Für die Aktivistin mit dem Kopftuch ist die Zusammenarbeit von Behörden, NGOs und Frauengruppen entscheidend. „Wer die Dschihadisten bekämpfen will, muss den Menschen eine bessere Alternative bieten – mit Bildung, Arbeit und Krankenversorgung.“ Den Kollegen vom Gesundheitsamt Idlib ist das gelungen. „HTS kann uns nicht kontrollieren“, sagt Dr. Khalil.

Ein Drittel der Auszubildenden sind Frauen

Dazu sei die Behörde zu groß und ihre Arbeit zu wichtig. In dem neuen Avicenna-Krankenhaus in Idlib mit zwei bombengeschützten unterirdischen Etagen wird medizinisches Personal ausgebildet, ein Drittel Frauen. Nachdem 2014 erste Fälle von Kinderlähmung auftraten, wurden 175.000 Kinder geimpft, 2.000 Freiwillige machten mit – seitdem ist kein Kind mehr erkrankt. Und in Sarmada hat kürzlich die erste psychiatrische Klinik in Nordsyrien eröffnet, die Patienten mit schweren Störungen statio­när aufnehmen kann. Zivile Strukturen in Idlib sind vielfältig – wer sie stärkt, bekämpft den Terror nicht als Symptom, sondern an seinen Wurzeln.

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1 Kommentar

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  • Danke für diesen Bericht, Frau Helberg.