Identitätswechsel von Atlético Madrid: Geschliffene Trutzburg
Die einstigen Defensivspezialisten des Fußballclubs Atlético entdecken die Angriffslust. Bleibt das Team seinem neuen Stil in Leverkusen treu?
Keine Mannschaft der großen europäischen Ligen hat in den letzten fünf Jahren so oft mit 1:0 gewonnen: 49 Mal. In Deutschland führt dieses Ranking interessanterweise Bayer Leverkusen an, das Atlético am Dienstag zum Achtelfinalhinspiel der Champions League empfängt.
Es ist die Wiederauflage eines Duells von vor zwei Jahren, als es – Ehrensache – ein 1:0 sowie ein 0:1 gab und selbst für das Elfmeterschießen die Finger einer Hand ausreichten. Von zehn Versuchen landete nur die Hälfte im Tor (Atlético drei, Leverkusen zwei), was freilich immer noch eine grandiose Quote ergibt im Vergleich zu den Bewerbungsunterlagen dieser Saison. Da hat Atlético von neun Strafstößen bloß drei verwandelt und Leverkusen von sechs gerade mal einen.
Und so könnte man mit den Klischees weitermachen – würde sich Atlético von ihnen nicht sukzessive verabschieden. Gameiros Hattrick war in Wirklichkeit mehr als eine Laune des Spiels, er steht auch für einen Wandel der ewigen Minimalisten. Die schludern hinten plötzlich, halten die Null oft nicht mal mehr eine Halbzeit und kassierten in 23 von 38 Ligaspielen schon mehr Gegentore als in der ganzen letzten Saison. Dafür wird vorn Spektakel geliefert. „Die einst sichere, stählerne, effiziente, aber unattraktive Mannschaft ist jetzt eine Bande von Abenteurern“, schreibt As.
Flucht nach vorn?
Die Trutzburg ist geschliffen, die Spielverderber kicken jetzt mit. Ob dieser Stilwechsel auf europäischer Bühne uraufgeführt wird, darf mit Spannung erwartet werden. Ebenso unklar ist, ob er überhaupt einem Masterplan folgt. Handelt es sich um einen Schritt nach vorn – oder die Flucht nach vorn?
Durch die Erfolge der letzten Jahre verfügt Atlético inzwischen über ein ansehnliches Jahresbudget (266 Millionen Euro) und einen der Stars des Weltfußballs (Antoine Griezmann), außerdem steht im Sommer der Umzug in eine neue Fünfsternearena an.
Der ewige Underdog mutiert zur handelsüblichen Spitzenmannschaft. Wo vor zwei Jahren noch ein grimmiger Block mit Kämpfern namens Raul García und Mario Suárez den Platz umpflügte, agieren die prägenden Figuren jetzt im Sturm: Griezmann, Gameiro, Yannick Carrasco. Hinten ihnen gibt es für die Gegner dafür manchmal freie „Lagunen“ – so Exstürmer Kiko –, und wenn es nicht läuft, pfeifen die Zuschauer schon mal ein bisschen schneller. Auch der Unterhaltungsanspruch ist gestiegen.
Trainer Diego Simeone scheint den Wandel vorsichtig zu forcieren, nach dem traumatischen Champions-League-Finale gegen Real Madrid braucht es einen neuen Impuls. Oft agiert jetzt der kreative Koke in der Mitte, ein Zerstörer wurde dafür geopfert. Doch im Spätherbst setzte es plötzlich so deftige Pleiten wie noch nie in Simeones Amtszeit, die Hinserie wurde mit dem schlechtesten Punktesaldo seiner fünf Jahre beendet.
Kerntugend auf dem Prüfstand
Wie früher wird Atlético phasenweise dominiert, aber anders als früher scheint es den Rückzug nicht mehr zu genießen. Das Pressing nicht mehr so harmonisch, die Linien nicht mehr so kompakt, die Lufthoheit nicht mehr so souverän: Alles wirkt ein bisschen poröser.
Die Spieler haben den Identitätsverlust offen angesprochen, auch das ein Novum unter Simeone. „Wir müssen wieder wir selbst sein, sonst läuft alles aus dem Ruder“, kritisierte Griezmann schon früh in der Saison. Angesichts Platz vier in der Liga und nach einem unglücklichen Pokalaus gegen den FC Barcelona bleibt die Champions League als letzte Titelchance einer Mannschaft, deren Kerntugend Disziplin auf dem Prüfstand steht.
Dass sich Verteidiger Lucas Hernández wegen des Vorwurfs eines gewalttätigen Streits mit seiner Freundin vor Gericht verantworten muss, passt da irgendwo ins Bild – er wird wegen der Vernehmung erst wenige Stunden vor dem Spiel in Leverkusen eintreffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht macht BND für Irrtum verantwortlich
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein