: Ich ist eine andere
Identitätspolitik, also Politik für die Rechte von Minderheiten, findet nicht mehr nur in linken Kreisen statt. Was man als Fortschritt lesen könnte – gäbe es da nicht den Link zu einem großen Gegenwartsparadigma: authentisch zu sein. Eine Problematisierung
Von Tania Martini
Beachtlich ist die Anzahl der Titel über (Anti-)Rassismus, LGBTI-Themen, Feminismus und Identitätspolitik, die die deutschen Verlage in diesem Herbst präsentieren. Musste man Bücher zu diesem Themenkomplex früher in linken Buchläden suchen, füllen sie heute große Sonderflächen in den Filialen großer Buchhandelsketten.
Nicht nur dort sind diese Themen angekommen. Sogar Modeblogs präsentieren Bücher über Identitätspolitik neben Kaufempfehlungen für die neuesten Chunky Boots und neben Interior-Tipps für die neue Eigentumswohnung.
Über die verstörenden Individualitätsbehauptungen und Subversionsgefühle in diesen Blogs à la „Meine Tochter trägt Blau statt Rosa“, die ebenso aus der Zeit Ludwig Erhards stammen könnten, kann man bestenfalls hinwegsehen wie auch über die Fragen, wann das richtige Alter fürs Heiraten erreicht ist, wie man einen bunten Schal richtig stylt oder welche Kleidung die PR-Assistentin letzte Woche trug.
Ebenso sollte man die sich unendlich wiederholenden Artikel mit Titeln wie „Der Tag, an dem ich verloren ging und mich selbst wiederfand“ – „Wer bin ich?“, – „Die Herausforderung, die Identität als Mutter zu bewahren“ und „Du kannst nur sein, wer du bist“ oder „Wir wollen nur sein, wer wir sind“ ignorieren. Oder vielleicht doch nicht? Denn wirklich interessant ist hier doch die Frage: Warum findet Identitätspolitik, die die Linke schon seit Längerem spaltet, in dieser spießigen, affirmativen Welt überhaupt eine so große Resonanz? Oder anders gefragt: Was macht die Identitätspolitik für die weiße, (links-)liberale Mittelschicht so interessant?
„Verkürzte Emanzipationsideale“ würde wahrscheinlich die Philosophin und Feministin Nancy Fraser antworten und Linksintellektuelle wie Slavoj Žižek ihr zur Seite springen mit Aussagen wie: Der neoliberale Mainstream und die Kämpfe für Minderheitenrechte teilten dieselben kulturellen Werte – individueller Aufstieg statt sozialer Gleichheit, Selbstoptimierung statt Solidarität, Empowerment statt Antikapitalismus – linke Identitätspolitik sei ein großes Repräsentationstheater in unheiliger Allianz, in dem die Linke die Klassenpolitik aufgegeben habe.
Die Idee, dass man die identitätspolitischen Anliegen prinzipiell fein säuberlich von den klassenpolitischen oder sozialen trennen könne, ist nicht überzeugend, haben sich doch historisch viele Impulse aus den sozialen Bewegungen zunächst als partikulare Interessen dargestellt und waren letztlich Teil eines allgemeineren Anliegens für soziale Gerechtigkeit.
Was aber die partikularen Kämpfe unserer Zeit so problematisch macht, sind die immer schrilleren Grenzziehungen zwischen kulturellen Differenzen und vermeintlich klar voneinander getrennten Identitäten. Diese Einhegungen führen zu abstrusen Vorstellungen von Identitäten und davon, was sie im Kern ausmacht. Und je genauer die Vorstellungen, desto vehementer werden sie verteidigt, abgegrenzt und überhöht und die entsprechend kategorisierten Menschen schlussendlich mit einer Aufforderung belegt, die dem großen Paradigma unserer Gegenwart entspricht: Sei authentisch!
Spiel mit den Masken
Das Authentizitätsparadigma ist für Menschen, die in der Postmoderne geschult sind, einigermaßen unterkomplex. Schließlich fand man den Gedanken, dass Identitäten nur konstruiert sind, um uns an das zu fesseln, was wir sein sollen, aber vielleicht gar nicht sein wollen, ziemlich gut. Die Freiheit, die in der Dekonstruktion aufschien, war das Gegenteil von Safe Spaces, man begehrte nicht Verbote und forcierte schon gar keine Geständniskultur, sondern suchte lieber das Spiel mit den Masken, wie es bei Michel Foucault hieß, der das wunderbar lapidar auf den Punkt brachte: „Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: Das ist eine Moral des Personenstands; sie beherrscht unsere Papiere.“
Gegenwärtig ist das anders. Identität, Seele, Authentizität – diesen Begriffen wohnt heute ein Individualit,ätsversprechen inne, das allerorten als begehrenswert dargestellt wird. Alles Künstliche, Unechte, Fragmentierte, Vieldeutige, Widersprüchliche, Abstrakte und jedes Geheimnis ist verdächtig.
Die Kabarettistin Lisa Eckhart drückte das in einem Interview sehr klug so aus: „Dass wir in einer Zeit leben, wo ‚künstlich‘, ‚manieriert‘ und ‚gewollt‘ keine Komplimente sind, erachte ich als sehr seltsam.“ Und wie seltsam, dass sowohl die kommentierenden Männer als auch die Feministinnen Eckhart nicht einfach als Rassistin beschimpften, sondern sich von ihrer Künstlichkeit angewidert zeigten.
Wo ständig Wahrhaftigkeit eingefordert wird, verlernt man schnell, zwischen Autor und Erzähler oder zwischen Mensch und Rolle zu unterscheiden, und sind Gefühle wichtiger als Argumente.
Man denke nur an den Erfolg des Memoir-Genres in der Literatur, das einen Kritiker der Zeitung Die Welt zu der verstörenden Aussage anregte: „Kann es sein, dass mir das Fiktionale plötzlich wie eine Lüge vorkommt, also etwas moralisch Verwerfliches.“
Verlust von Erfahrbarkeit
Woher das alles? Für den Literaturwissenschaftler Erik Schilling, der kürzlich ein Buch mit dem Titel „Authentizität“ (C.H. Beck, 2020) vorgelegt hat, ist Authentizität als „zentrale Sehnsucht“ der Gegenwart eine „Reaktion auf zunehmende gesellschaftliche Komplexität“. Analytischer der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen. Er deutet den „dauerbrennenden Authentizitätsdiskurs“ völlig richtig im Zusammenhang mit einem gefühlten „Verlust von Erfahrbarkeit“. In der kapitalismuskritischen Variante wird dieser Verlust in der Warenform verortet, Stichwort Entfremdungs- und Verdinglichungstheorien. In der rechten Variante ist die Moderne-skeptische Kulturkritik ein Vorläufer.
Klar ist, die Sehnsucht nach Authentizität ist eine Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Und selbst dort, wo man sich progressiv geriert, kommt man ständig mit einem moralischen Imperativ um die Ecke. In diesen Modeblogs etwa, wo der Mode als Behauptung des Neuen gefolgt, aber mit Bedacht Mittelmaß gehalten wird, um möglichst vielen einen Identifikationsraum zu geben und Politik in Lifestyle übersetzt wird, liegen die ideologischen Anrufungen wie in einem offenen Buch vor einem. – „Du kannst nur sein, wer du bist.“
Jenseits der Unterdrückung
„Emanzipationsbewegungen müssen das politisieren, was als soziale Eigenschaft gegen sie gerichtet wird“, schreibt der liberale Rechtswissenschaftler Christoph Möllers in seinem gerade erschienenen Buch „Freiheitsgrade“ (Suhrkamp, 2020) und führt unfreiwillig den blinden Fleck der Identitätspolitik unterm Authentizitätsparadigma vor, der in der fehlenden Kritik des Identitätszwangs besteht und darin, in den Kategorisierungen zu verharren.
Oder wie formulierte das ein Aktivist der Black-Lives-Matter-Bewegung in Anlehnug an die Schriftstellerin Toni Cade Bambara vergangenen Sommer: „Wir brauchen Kategorien, die den Kampf der schwarzen Feministinnen jenseits der Unterdrückung verstehen, die das System ihnen auferlegt. Wir alle wissen, dass Identitätspolitik, dieses Gespräch über „weiße Privilegien“ … die Grenzen, die wir zu überwinden versuchen, verstärkt. Wenn sie jemals einen Nutzen oder ein Ziel hatte, hat der Aufstand [BLM, T.M.] sie an diesem Punkt abgelöst.
Man wird sehen. In Deutschland kommt sie wohl gerade erst im (links-)liberalen Mainstream an. Andererseits ist das ja bei Weitem nicht das Schlimmste.
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