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Identität Unfug

Götterkult und Karneval: Die Klassifizierung mexikanischer Künstler als „Minderheitenkunst“ funktioniert nicht mehr  ■ Von Claudia Büttner und Martin Zeyn

Ein Mann, eine Frau, ein Kind. In gebückter Haltung halten sie sich an den Händen und überqueren rennend die Straße. Es ist ein Piktogramm in Form eines Verkehrszeichens: Achtung! Flüchtlinge überqueren die Fahrbahn. Das Bild ließe sich als zynisch-poppiger Kommentar eines Künstlers lesen, wäre es nicht so real – kein Witz, sondern ein Verkehrsschild an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten.

Die USA haben sich gerne als Schmelztiegel präsentiert. Was in der Gesellschaft jedoch nie funktioniert hat, erledigen zuweilen auch bloße Zuschreibungen. Das Schlagwort, um das sich hierbei alles dreht, heißt minority. Die Künstler, die zuletzt als Ausgleich für versäumte Integrationspolitik einen Ausstellungsboom erlebten, passen nicht ins weiße amerikanische Weltbild, nicht einmal in dessen aufgeklärten Diskurs: Sie sind weder African Americans noch Asiaten. Übrig bleiben all diejenigen, deren Herkunft oder Sprache sie an das ehemalige spanische Imperium auf dem südamerikanischen Kontinent bindet. Alle Unterschiede verwischend, werden sie Latinos genannt.

Sie kommen nicht erst über die Grenze, nicht erst durch Nafta – nein, sie sind schon da. Und sie sind zuversichtlich – stolz: „I Can't Imagine Ever Wanting To Be White“. Schwer war das zu entziffern, da jedes Wort einzeln auf den Buttons stand, die sonst die Museen als Eintrittskarte ausgeben.

Ist die Kunst schlecht oder die Sammlung?

Den Eintritt haben Nichtweiße in Museen mittlerweile gewährt bekommen. Wo nur die Teilhabe zählt, wo Konsum die Erinnerung der Nachwelt programmiert, besinnen sich die großen Hüter des nationalen Erbes, die Museen von New York bis Los Angeles, auf die Latinos, räumen ihnen Platz ein: ein großer Raum mit den arrivierten Positionen von Kahlo, Orozco und Rivera. Manchmal reichen die Bestände an bemalten Leinwänden nicht aus, so finden sich zum Beispiel in Chicago neben den Tafelbildern auch Handzeichnungen und Drucke mäßiger Qualität. Ist dann die Kunst schlecht oder die Sammlung? Aber die Probleme mit der Kunst hören nicht auf, wenn die Sammlung hochrangig ist. Im Museum of Photography in New York findet eine Ausstellung „Mexico in foreign eyes“ statt. Alte Fotografien, großartige Fotografien (etwa von Cartier-Bresson) neben allerlei Ethno-Kitsch, der die Motive ornamental stilisiert. Auch Abbildungen können zur Schikane dienen, wenn sie dem Diktat formaler Komposition und Neuheit mehr Geltung einräumen als der Dignität des Gegenstandes. Die Degradierung der mexikanischen Kultur zum Ornament – hier ist sie zu finden: Ein fremdgebliebenes Land wird zum Vehikel, um bekannte ästhetische Positionen wohlmeinend-liberal auszustellen. Auch die zunehmend von Museen erwähnten minority-Künstler können sich hier nicht sicher sein, nur ornamentale Beigabe der realen Ausgrenzung an einem geschützten Ort bürgerlicher Kultur zu sein. Schließlich gehören Sonderausstellungen von Minderheitenkunst inzwischen zum guten Ton politisch korrekter Häuser wie The New Museum in New York, das mit seiner letztjährigen Herbstausstellung einen „positiven Schritt zu einer wahrhaft postkolonialen Latino-Identität“ zu finden suchte. Die modische Applikation des „Anderen“ ist nur eine wohlklingende Beschreibung von Ausgewogenheit. Aber kann ein Künstler Publizität ausschlagen, selbst wenn diese lediglich auf seine Zugehörigkeit zu einer ethnisch definierten Gruppe ausgerichtet ist? „I Can't Imagine Ever Wanting To Be White“ war die bissige Entgegnung, die Daniel J. Martinez auf der „Whitney Biennial Show“ 1993 lieferte. Diese Gegenrede boykottiert nicht den Ausstellungsbetrieb und seine Moden, sondern benutzt beide. Statt brav folkloristische Kunst zu liefern, wird der angebliche Konsens hinterfragt: Wer ist eine Minderheit, wodurch und warum? Dabei geht es nicht darum, eine Zuschreibung durch eine andere zu ersetzen. Man will vielmehr den Zuschreibungen nicht mehr vertrauen.

Randolph Street Gallery in Chicago: im ersten Raum Plastik- und Pretiosen-Kunst der Neunziger, gestaltet von europäischen und nordamerikanischen Künstlern. Eine Folge des in den Fünfzigern ausgerufenen „internationalen Stils“ scheint die Einheit aller ambitionierten Kunststudenten zu prägen – ob Europäer, Asiate oder Amerikanerin, heraus kommt nach den gleichen Überlegungen gemachte Kunst.

Latino-Identität im Sinne von Ethno-Kitsch

An die Wand zum nächsten Raum hat Martinez ein Clowngesicht gemalt. Eine Tür steht offen, dahinter liegt ein schmaler Gang, ganz mit rotem Stoff ausgeschlagen. Drei Vorhänge sind zu öffnen, an beiden Seiten sind Wörter angebracht, die beim Herausgehen einen Satz ergeben. Kämen nicht Geräusche aus dem kaum 1,50 Meter hohen Schlupfloch links am Ende des Ganges, der Eingang zum zentralen Raum wäre im rötlichen Dämmerlicht zu übersehen. Hier ist der Boden über und über mit Kleidung bedeckt, an den Wänden hängen gezeichnete Profile, denen Texte wie „Woran erkennst du Gut und Böse?“ beigegeben sind. Den Gesichtern ist nicht anzusehen, daß sie Phantombilder der Bombenattentäter auf das New Yorker World Trade Center sind. Die Besucher wissen es aus den Medien. Doch sie können sich nicht darauf konzentrieren: In unkalkulierbarer Abfolge, da von zwei schief gehängten, rotierenden Spiegeln reflektiert, huschen unscharfe Videobeambilder über die Wände, die verzerrten Aufnahmen einer Prozession zu einem alten mexikanischen Tempel sind kaum zu erkennen. Dazu erklingen undefinierbare Geräusche mit Anklängen an Stimmen und Schritte, manchmal auch schnulzige Filmmusik. Unsicher im Schritt, da immer wieder auf der verstreuten Kleidung ausrutschend, beängstigt, da kein Außenlicht in den kleinen Raum fällt, und benommen von der zähen Süße der Musik, umkreisen die Betrachter den in der Mitte aufgestellten Projektor und die rotierenden Spiegel, registrieren den ungeheuren Druck durch die verschiedenen Medien, versuchen ihn mit Kunstreflexionen aufzufangen und erliegen doch: Ist es nicht im Prinzip wie bei den Fotoinstallationen eines Boltanski? Christian Boltanski inszeniert sakrale Räume. Martinez ist unseriös, indem er überlastet. Sein Zuviel an Implikationen erzwingt Widerstand; er fordert die Verdrängung heraus. Hier darf sich bestätigt fühlen, wem der Schrecken der Welt zu groß geworden ist – und die Flucht ein Recht. Zuviel!

Schamanisch- christliche Synthese

Martinez arbeitet nicht an der Entwicklung europäischer Tradition, er nimmt sie auf: keine Haupt- oder Subsysteme, sondern ein Patchwork von Zeichen aus unterschiedlichen Kulturen und Zeitabschnitten. Sprache, Religion und Ordnungssysteme sind von den spanischen Eroberern oktroyiert worden. In Mexiko ist ein Gebilde herausgekommen, das offenkundig synthetisch ist, wo schamanische, aztekische und christliche Elemente amalgamiert wurden (während in Europa ein Gefühl für die synthetischen Prozesse, die unsere Kulturen gebildet haben, verloren scheint). Für Martinez wie für eine ganze Reihe von Künstlern gilt keine Tradition als bloß zerschlagene. Wer immer einen Satz nicht vollständig begreift, versucht, ihn für sich zu flicken. An dieses Bild von Kultur hat man sich auch im Kontext Lateinamerikas gewöhnt. In diesem Prozeß des Mißverstehens, Hervorrufens und Zusammenkleisterns werden Erinnerungen in einem ruinösen Zustand kolportiert. Der Akt des Widerstandes ist in diesem Erinnern so verschwommen wie im europäischen Karneval das antiklerikale Aufbegehren. Im Museum of Mexican Fine Arts in Chicago fand eine Gruppenausstellung von Künstlern und Kunsthandwerkern zum traditionellen „Dia de los muertos“ statt. An einem Stand goß ein Handwerker aus Zucker Totenschädel, die in einer farbigen Glasur mit dem Namen der Verstorbenen versehen wurden. Haben so die Götter der Maya und Azteken die europäischen Grabmäler überlebt? Sind sie so den Völkerkundemuseen entkommen? Michail Bacchtin sah im mittelalterlichen Karneval jene Kräfte angelegt, die die engen Grenzen jener Zeit kurzzeitig außer Kraft setzten. Verdrängtes Sexualleben, gezähmte Sprache und der verwaltete Körper: Im Karneval ließ sich das alles austoben. Auch die mexikanische Volkskultur hat nicht nur den Stempel der Eroberer aufgeprägt bekommen, sondern trägt auch die Erinnerung an die vorspanische Zeit in sich.

Viele Latino-Künstler benutzen diese karnevalesken Momente. Die Ausstellung von Guillermo Gómez-Pena und Coco Fusco in der Otis Art Gallery in Los Angeles zeigt unter anderm eine Green card für den „illegal alien Christophorus Kolumbus“. Von der gemeinsamen Aktion „The Year of the White Bear“ stammt ein Video: frühe ethnographische Fernsehberichte, in denen sich der Imperialismus frank und frei zur Schau stellt; ein Käfig, in dem das mit Pantherfell, Sonnenbrille, Motorradmütze, Federn ausstaffierte Künstlerpaar als „Bewohner einer bisher unentdeckten, kleinen Insel“ 1992 in Madrid, Toronto und einigen Städten der USA präsentiert wurde. Wer einen Dollar bezahlte, durfte sie füttern, wer fünf Dollar hinlegte, für den entblößten sie ihre Geschlechtsteile. In Interviews bemerkten Marinesoldaten erstaunt, daß sich bei solchen Naturmenschen die Frauen die Beine rasieren. Eine junge Frau bricht in Tränen aus, daß eine solche Zurschaustellung so noch heute ge

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schehen könne. Der verlogene Kern von Folklore wird hier von dem Künstlerpaar vorgeführt. Sie machen die ethnifizierenden Festlegungen lächerlich, indem sie diese annehmen. Naiv sind nicht die „natives“, sondern die, die sie dazu erklären. Aber funktioniert Unfug gegen Totalität von Zuschreibungen? Das Gegenteil funktioniert sehr wohl: die Vernichtung oder Unterdrückung von Völkern aufgrund der weiterhin bestehenden Rassenvorurteile.

Revolution im Schatten von high and low

Wer die Bedeutung der Zeichen bestimmt, macht sich damit ihre Einflußmöglichkeiten zu eigen – so etwa bei Bacchtin oder Gramsci, der postulierte, daß jeder Revolution „eine intensive kritische Arbeit der geistigen Durchdringung, der Ausstrahlung von Ideen auf Menschengruppierungen“ vorausginge. Inigo Manglano-Ovallo fügt noch an, daß im Gegensatz zu Europäern Latino-Künstler nicht nur eine gesellschaftliche Elite ansprechen. „Es ist ein Mißverständnis oder ein Ausdruck von Verachtung, wenn man meint, die Leute verstünden uns nicht. Hier in meiner Nachbarschaft sind alle in der Lage, neuartige Zeichen zu lesen. Sie leben mit den Zeichen der Gangs und Gruppen, sie wissen sie zu dechiffrieren und sie zu beachten.“ Dann zitiert er Marquez, der die Schwierigkeit der Rezeption nicht in der Sprache seiner Romane sah, sondern in der staatlichen Kontrolle der Distribution.

Entsprechend haben bestimmte europäische Trennungslinien für Manglano-Ovallo keine Geltung mehr, etwa „high and low“ oder „art and social issue“. So verstand er sein Projekt der Wiedereinführung von Gasbeleuchtung und eines Lampenanzünders als Konzeptkunst: „Erstens bedeutet Licht mehr Sicherheit in unserer Gegend. Zweitens: Die Lampenanzünder hatten eine soziale Funktion. Sie kannten jeden, sie waren Nachrichtenübermittler, wie Nachtwächter kontrollierten sie, was auf den Straßen geschah.“ Allerdings verwarf Manglano-Ovallo seinen Projektentwurf, als klar wurde, daß die verbesserte Sicherheit in seiner neighborhood zwangsläufig zu einer Verdrängung der angestammten Bevölkerung durch Käufer aus der weißen Mittelschicht führen würde. Ihnen ginge es dabei nämlich nur um sichere innerstädtische Wohnungen, nicht aber um Kunst in einem sozialen Kontext.

Die Spannungen bleiben auf beiden Seiten exzeptionell: Jede Gesellschaft scheint sich gegen Veränderungen zu wehren, die gerade aufgrund veränderter kultureller Vorstellungen eingefordert werden. Das Aufbrechen monolithischer Zeichensysteme, karnevaleske Motive und ein anderer Status von Kunst sind jedoch auch Merkmale einer Revolte. Unter wandelnden Maximen läßt sich keine kulturelle Identität mehr als absolut gesichert denken. Hier liegen die Möglichkeiten, die diese Entwicklung von Latino-Kunst in den Vereinigten Staaten bietet.

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