: „Ich integriere mich gut“
Zabih Hidayat ist in Afghanistan in einer Gesangsshow aufgetreten. Inzwischen betreibt er im schleswig-holsteinischen Mölln ein Restaurant, das er auch als Bühne nutzt
Interview Klarissa Krause Fotos Timo Knorr
taz: Zabih Hidayat, Sie sind vor zweieinhalb Jahren aus Afghanistan über Iran nach Deutschland gekommen. Heute sind Sie Inhaber eines Restaurants. Wie war es, hier von null zu starten?
Hidayat: (seufzt) Das war schwer. Stellen Sie sich vor: Ich kam aus einem Land, in dem ich alles hatte, in ein anderes. Und dort hatte ich nichts. Die Kultur, die Sprache, das System, die Regeln, alles war neu für mich. Es war sehr stressig. Ich musste anfangen, an etwas zu arbeiten, sonst wäre ich kollabiert.
taz: War das Restaurant, was Sie hier in Mölln aufgebaut haben, ein Mittel, um in Deutschland anzukommen?
Hidayat: Ja, ich versuche, mich hier in Deutschland zu integrieren. Ich habe es immer geliebt, etwas Neues aufzubauen. Und dieses Neue soll der Gesellschaft, in der ich lebe, etwas Gutes bringen. Haben Sie die Google-Bewertungen des Restaurants gelesen? Da steht, es sei eine Bereicherung für Mölln. Und das ist mir sehr wichtig. Aber ich muss immer noch viel lernen.
taz: In Deutschland zirkulieren einige Stereotype über Afghan*innen, aber wenige davon sind positiv. Hat das einen Einfluss auf Ihr Leben?
Hidayat: Ja, die öffentliche Wahrnehmung kann definitiv einen Einfluss haben. Leider prägen negative Schlagzeilen über das Verbrechen eines Afghanen oft die Sichtweise der Menschen auf die ganze Community. Ich glaube, es ist wichtig, diesen Stereotypen entgegenzuwirken, indem man eine andere Seite Afghanistans zeigt – durch Gastfreundschaft und respektvollen Umgang miteinander.
taz: Sie und Ihre Familie kamen bei Ihrer Ankunft in Deutschland zunächst in eine Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Rostock. Was haben Sie dort erlebt?
Hidayat: Der Leiter des Heims war ein guter Mann und ist weiterhin ein Freund. Er hat mir und meiner Familie sehr geholfen anzukommen. Nach einem Monat fand ich eine Wohnung in Rostock und konnte mit meiner Familie dorthin umziehen. Ich wollte wirklich schnell in das normale Leben starten. Ab da haben wir aber sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Unsere Nachbarn sagten uns jeden Tag, wir sollten Deutschland verlassen. Die Nachbarin schickte ihren 10-jährigen Sohn zu uns und er hämmerte gegen die Tür. Auch in der Schule werden meine vier Kinder gemobbt und sogar geschlagen: „Ihr seid Ausländer, zieht weg!“ Deshalb fragten meine Kinder mich, warum wir nach Deutschland kommen mussten. Was soll ich meinem kleinen Sohn denn sagen, wenn er das fragt?
taz: Das tut mir sehr leid.
Hidayat: Zehn Monate nach meiner Ankunft in Deutschland bin ich wegen des Restaurants nach Mölln gezogen. Meine Frau und die Kinder wohnen bis heute in Rostock. Innerhalb der nächsten drei Monate möchte ich sie hierher nachholen. In Mölln haben wir eine Familie kennengelernt, die unsere Situation wirklich versteht und mit der wir uns gut angefreundet haben. Nun haben sie ihre Wohnung in einer anderen Stadt verkauft und werden hier in Mölln eine Wohnung kaufen – um sie an uns zu vermieten! Diese Art der Unterstützung für Einwanderer ist eine Art Wunder. Das bedeutet mir sehr viel.
taz: Und doch wählen auch in Mölln 20 Prozent die AfD.
Hidayat: Das stimmt und leider ist es jetzt fast überall in Deutschland so. Aber sie sind nicht in der Mehrheit. In meinem Restaurant heiße ich jeden willkommen.
taz: Das heißt, in Ihr Restaurant kommen auch AfD-Wähler?
Hidayat: Sie sagen es nicht offen, aber wenn man miteinander spricht und diskutiert, kann man das schon erkennen. Manche Gäste machen sich über uns oder das Essen lustig, machen rassistische Aussagen. Meine Mitarbeiter*innen und ich bleiben trotzdem immer großzügig und freundlich, überraschen die Gäste am Ende sogar manchmal mit einer Kleinigkeit. Wir wollen zeigen, dass wir dem Bild vom „kriminellen Afghanen“, das oft von den Medien gezeichnet wird, nicht entsprechen.
taz: Mich würde es sehr wütend machen, so behandelt zu werden. Wehren Sie sich nie?
Hidayat: Natürlich ist es nicht richtig, mich schlecht zu behandeln – ob in meinem Restaurant, an offiziellen Stellen oder im Privatleben. Doch es ist gleichzeitig meine Pflicht, mich hier zu integrieren. Und außerdem muss ich meine Geschäfte führen, da kann ich nicht einfach unfreundlich werden.
taz: Mölln ist in Deutschland auch für den Mordanschlag von 1992 bekannt, bei dem Rechtsextremisten die Häuser von zwei türkischen Familien in Brand setzten. Dabei starben 3 Menschen, 9 weitere wurden schwer verletzt. Haben Sie davon gehört?
Hidayat: Ja.
taz: Derzeit steigen überall im Land rechte Gewalttaten an. Haben Sie Angst, so etwas wie der Mordanschlag könnte in Mölln wieder geschehen?
Hidayat: Seitdem hat sich sehr viel geändert. Ich bin in Mölln vielen Menschen freundschaftlich verbunden und integriere mich gut. Wir kommen im Restaurant auch mit zahlreichen Leuten in Kontakt, das reduziert Angst.
Der Mensch
Zabih Hidayat wurde 1986 in Kundus in Afghanistan geboren. 2008 schloss er seinen Bachelor of Commerce an der Universität Delhi ab. Er ist der Gründer von 786 Pharmacy, Afghanistans erster Apothekenkette. Er startete auch eine der ersten Rockbands des Landes und veröffentlichte das Sufi-Rock-Lied „Deleman“. Als die Taliban die Macht übernahmen, musste er nach Iran fliehen und engagierte sich dort für die deutsche Hilfsinitiative Kabul Luftbrücke. Mit seiner Frau und den vier Kindern kam er Ende 2022 nach Deutschland. Heute lebt und arbeitet er in Mölln, wo er im vergangenen Jahr das Restaurant SeidenStrasse eröffnet hat.
Die Aufnahmeprogramme
Der Abzug der internationalen Truppen und die Machtübernahme der Taliban 2021 war für viele Afghan*innen eine Katastrophe. Um besonders gefährdeten Menschen die Ausreise zu ermöglichen, wurden humanitäre Aufnahmeprogramme geschaffen. Bis Januar 2025 kamen dadurch rund 34.700 Afghan*innen nach Deutschland, darunter ehemalige Ortskräfte, Frauen, Aktivist*innen und Journalist*innen. Die neue Bundesregierung will alle freiwilligen Aufnahmeprogramme beenden. Dies könnte auch rund 2.500 afghanische Staatsangehörige betreffen, die schon eine Zusage für das Bundesaufnahmeprogramm bekommen haben. Sie sitzen derzeit in Nachbarländern wie Pakistan und Iran fest – in ständiger Angst vor Abschiebung.
taz: Wie kommt es, dass Sie in Deutschland gelandet sind?
Hidayat: Als die Taliban Afghanistan zu übernehmen drohten, wollte ich mein Land nicht verlassen, ich hatte die Schwere der Situation nicht verstanden. Ich wusste außerdem gar nicht, an wen ich mich wenden sollte, um zu fliehen. Aber ich hatte Freunde, die bereits in Deutschland lebten. Sie leiteten meine Informationen an die deutsche Regierung weiter. Das führt dazu, dass ich in die erste Evakuierungsliste aufgenommen wurde.
taz: Als die Taliban 2021 die Macht übernahmen, waren Sie mitten in Kabul.
Hidayat: Das war ein Schock für alle. Niemand hatte das erwartet. Als die Taliban kamen, war ich in der iranischen Botschaft. Auf der Straße ertönten auf einmal Schreie: „Sie haben Kabul!“ Die iranischen Botschaftsangestellten wollten uns ohne Visum durch den Hintereingang auf die Straße setzen. Überall war Chaos und ich begann, in mein Büro zu rennen, das wohl zwei Kilometer entfernt lag. Dort blieb ich 25 Tage lang versteckt. Freunde versorgten mich, bis ich tatsächlich ein Visum für Iran bekam.
taz: Dort blieben Sie dann ein Jahr und arbeiteten mit der Hilfsinitiative Kabul Luftbrücke.
Hidayat: Die Freundin, die meine Bewerbung an die Bundesregierung weitergeleitet hatte, arbeitete dort. Also schloss ich mich ihrem Team an und begann, Afghan*innen zu unterstützen, die schon eine Aufnahmezusage für Deutschland hatten und über Iran nach Deutschland reisten. Ich half ihnen bei der Suche nach Unterkünften und beim Ausfüllen von Dokumenten und Anträgen.
taz: Fühlen Sie sich schlecht, wenn Sie an die Menschen denken, die Sie in Afghanistan zurückgelassen haben?
Hidayat: Ja, definitiv. Viele meiner Freunde wurden getötet, nachdem wir das Land verlassen hatten. Viele arbeiteten für die Streitkräfte und wurden auf furchtbare Weise ermordet. Der Ehemann meiner Schwester wurde sieben Monate im Gefängnis gefoltert. Nun leben er und meine Schwester in Mainz. Vier meiner Geschwister sind noch in Afghanistan, ihre Kinder können nicht in die Schule gehen. Wir waren alle eine lange Zeit lang sehr deprimiert. Und dazu hatte ich alles verloren.
taz: Obwohl Sie in Afghanistan ein gut situiertes Leben führten und eine Apothekenkette betrieben, sind Sie ohne jeglichen Besitz nach Deutschland gekommen?
Hidayat: Genau, ich konnte nur ein paar Sachen aus Iran mitnehmen.
taz: Sie haben mir vorhin erzählt, dass Sie bei Eröffnung des Restaurants in Mölln gar nicht kochen konnten. Warum haben Sie gerade ein Lokal gegründet?
Hidayat: Ich wollte erst an der Universität Rostock Musik studieren, doch dann habe ich mich dafür entschieden, zu arbeiten. Das Restaurant ist auch eine tolle Bühne für kulturelle Aktivitäten. Durch das Essen kann ich meine Kultur repräsentieren und Afghanistan von einer Seite zeigen, die die meisten Deutschen nicht kennen. Dazu kommt, dass ich immer schon Geschäfte geführt habe. Doch ziemlich schnell habe ich gemerkt: In Deutschland gibt es jede Menge Formulare auszufüllen. Da sind mir schon viele Fehler unterlaufen. Mir gefällt das aber, ich lerne mit jedem Brief dazu.
taz: Sie finden die Bürokratie gut?
Hidayat: Ja! Wenn man aus einem Land kommt, in dem Gesetze nicht durchgesetzt werden, dann ist das sehr gut. Hier in Deutschland gibt es Sicherheit. Die Regierung unterstützt die Menschen mit all den Regulierungen. Vielleicht gibt es ein wenig zu viel Bürokratie, aber ich kann mich auf den Staat verlassen. Wenn ich ein Problem habe, dann wende ich mich an ihn und werde beschützt.
taz: In Afghanistan haben Sie auch bei der Castingshow „Afghan Star“ mitgemacht, die so ähnlich ist wie „The Voice of Germany“ oder „Deutschland sucht den Superstar“. Außerdem haben Sie das Lied „Deleman“ auf Youtube veröffentlicht, das mehrere Hunderttausend Aufrufe hat. Wann haben Sie begonnen zu singen?
Hidayat: Ich habe Musik und Singen schon immer geliebt, aber das Singen war in meiner Jugend kein angesehener Beruf.
taz: Wegen der Religion? Extreme Auslegungen des Islam verbieten Musik und Tanz.
Hidayat: Ja, aber eigentlich sagt die Religion nicht, dass Musik schlecht ist. Das ist menschengemacht, ein soziales und kulturelles Konstrukt. Später änderte sich die Situation.
taz: Was ist passiert?
2001 kamen die internationalen Kräfte unter Führung der USA nach Afghanistan. Sie unterstützten den Aufbau der Demokratie und setzten sich für die Gründung von Musikprogrammen wie „Afghan Star“ ein. Dadurch änderte sich die Mentalität der Menschen, sie wurden offener für Musik. Auch mein Vater begann, meine Liebe zur Musik zu akzeptieren, sodass ich endlich als Sänger auftreten konnte.
taz: Wann haben Sie Ihren ersten Song veröffentlicht?
Hidayat: Ungefähr ein Jahr bevor die Taliban kamen, wurden die politische und wirtschaftliche Situation sowie die Sicherheitslage unter der alten Regierung wirklich grässlich. Die Menschen waren abgestumpft von allem. Da wollte ich etwas tun, das die Menschen inspiriert und habe meine Songs veröffentlicht.
taz: In Ihren Liedern vertonen Sie Texte von Rumi, einem sufistischen Dichter aus dem 13. Jahrhundert.
Hidayat: Menschen können stundenlang Musik hören, aber wenn man mit ihnen redet, hören sie nicht zu. Ich packe Rumis bedeutungsvolle Texte in Musik, damit sie den Hörer*innen Erleichterung verschaffen. Und das funktioniert.
Wenn Sie heute unter den Taliban in Afghanistan leben würden, könnten Sie dann Ihre Musik weiter aufnehmen?
Hidayat: Oh Gott, nein, das ginge gar nicht. Sie würden das nicht erlauben, denn ich singe definitiv etwas für die Menschen. Musik ist für mich revolutionär. Meine Musik sagt den Menschen: Steht auf und kämpft!
taz: Seit Sie hergekommen sind, hat sich die Wahrnehmung von Afghanen verschlechtert.
Hidayat: Ja, das habe ich auch gespürt.
taz: Nun wackelt sogar das einst mit so hohen Erwartungen gestartete Bundesaufnahmeprogramm für gefährdete Menschen aus Afghanistan. Was sagen Sie dazu?
Hidayat: Es gibt Menschen, die es wirklich verdient haben hierherzukommen. Dazu gehören Frauen, Künstlerinnen, Aktivistinnen, Journalistinnen und andere, deren Leben in ihrer Heimat in großer Gefahr ist. Ich kenne einige Afghan*innen, die inzwischen in Deutschland leben, persönlich. Sie kommen hier sehr gut zurecht, integrieren sich, lernen fleißig Deutsch und gehen einer Arbeit nach.
taz: Was sollte Deutschland jetzt tun?
Hidayat: Druck ausüben. Die Taliban repräsentieren unsere Religion nicht. Sie benutzen sie für ihren politischen Vorteil. Sie sollten endlich gehen oder entmachtet werden, damit die Menschen atmen können. Das ist eine sehr schwierige Situation, vor allem für Frauen. Ich bin sehr glücklich, dass meine Tochter hier studieren und zur Schule gehen kann.
taz: Wollen Sie in Mölln bleiben?
Hidayat: Ja, es ist ein toller Ort für mich mit tollen Menschen und in einer guten Lage. Ich kann hier wirklich leben.
taz: Was sind Ihre weiteren Pläne?
Hidayat: Ich möchte das Restaurant erweitern und ein Musikstudio aufbauen. Außerdem möchte ich mit einem Freund eine Produktionsfirma für Kurzfilme gründen.
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